Die EU-Kommission hat den Auftrag erhalten, die praktischen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Verlängerung des Grenzschutzes zu prüfen. Damit wird der europäische «Schengen-Raum» praktisch infrage gestellt. Der Auftrag kommt von den EU-Innenministern, die sich in Amsterdam informell getroffen haben. Mit dieser Verlängerung könnten die Grenzkontrollen in mehreren Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Österreich bis Mai 2018 bestehen bleiben.
Die längerfristigen Grenzkontrollen in Europa sollen eine Antwort auf den «nie dagewesenen Zufluss von Asylbewerbern» sein, sagte der niederländische Staatssekretär für Migration, Klaas Dijkhoff, nach dem Treffen.
Vertreter der EU-Kommission und der EU-Staaten beteuerten in Amsterdam trotzdem, ihr Ziel sei es, den Schengen-Raum zu bewahren. «Aber allen ist bewusst, dass der Schengen-Raum auf der Kippe steht», sagte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Ihr deutscher Amtskollege Thomas de Maizière warnte: «Falls Schengen kollabiert, sind alle Schengen-Staaten betroffen – politisch wie wirtschaftlich.»
Drohungen gegen Griechenland
Grenzkontrollen in Europa würden auch Griechenland betreffen, weil dort weiterhin mit Abstand am meisten Migranten ankommen und bisher ungehindert auf der Balkan-Route nach Mitteleuropa reisen. In Amsterdam drohten Österreich und Schweden der griechischen Regierung deshalb mit dem Ausschluss aus dem Schengen-Raum.
«Wenn es nicht gelingt, die europäische Aussengrenze, sprich die türkisch-griechische Grenze zu sichern, dann wird sich die Schengen-Aussengrenze Richtung Mitteleuropa bewegen», sagte Mikl-Leitner. Sie nannte es einen «Mythos», dass die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland nicht geschützt werden könne.
Der griechische Migrationsminister Yannis Mouzalas sprach in Amsterdam von einem «Schwarze-Peter-Spiel». Er verwahrte sich gegen Schuldzuweisungen. «Wir sind es müde zu hören, dass wir unsere Grenzen nicht sichern können.» Die Seegrenze zur Türkei könne nicht abgedichtet werden.
Was wollen Sie, dass wir tun? Nach jeglichem Recht ist die einzige Handlungsoption, [die Leute] zu retten.
Zudem erhalte sein Land nicht genug Unterstützung aus Europa, sagte Mouzalas. «Griechenland ist nicht die Tür, sondern der erste Teil des Korridors nach Europa.»
Schweiz verlangt europäische Lösung
Für die Schweiz als Schengen-Mitglied war am EU-Ministertreffen in Amsterdam Mario Gattiker vom Staatssekretariat für Migration (SEM) anwesend. Er vertrat als Stellvertreter die erkrankte Bundesrätin Simonetta Sommaruga.
Die Schweiz stelle sich gegen Grenzkontrollen und auch die Festlegung einer Obergrenze bei der Flüchtlingszahl sei keine Option, sagte Gattiker der «Tagesschau»: «Die Lösung muss europäisch sein. Deshalb erwarten wir von den EU-Mitgliedstaaten, dass die bisherigen Beschlüsse auch umgesetzt werden.»
Hoffnung auf die Türkei
Bundesinnenminister De Maizière mahnte zur Zurückhaltung mit Kritik an Griechenland. Er wies darauf hin, dass die Last für die Athener Regierung auch dadurch geringer würde, wenn die Türkei mehr Migranten an der Weiterreise Richtung EU hindere.
Die EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini sagte nach Beratungen mit der türkischen Regierung in Ankara, dass die Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise stärker unterstützt werden müsse. Dafür hat die EU dem Land drei Milliarden Euro Hilfe zugesagt.
Griechenland in der Pflicht
Oliver Washington, SRF-Korrespondent in Brüssel, hält die Kritik aus Österreich und Deutschlang an Griechenland für populistisch: «Sie suggeriert, dass Griechenland Flüchtlinge mit einer besseren Sicherung der Aussengrenzen daran hindern könnte, ins Land zu kommen.»
Griechenland könne das aber, wie auch Migrationsminister Mouzalas anmahnte, gar nicht: «Es darf Flüchtlinge, die es auf offenem Meer rettet, nicht einfach in die Türkei zurückführen. Griechenland muss sich um diese Menschen kümmern.» Kritik an der laxen Registrierung der Flüchtlinge sei hingegen legitim: «Griechenland kann die Flüchtlinge besser kontrollieren.» Dies sei auch die Voraussetzung für deren Verteilung auf die europäischen Staaten, so Washington.
Ist mit dieser Forderung nach Grenzkontrollen das Schengener Abkommen gestorben? «Nein», meint SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck, «aber Schengen liegt auf dem Krankenbett und könnte noch für längere Zeit krankgeschrieben sein.»
Erst vom weiteren Verlauf der Flüchtlingskrise hänge es ab, ob Schengen wieder genesen könne oder «ob dieses System beerdigt werden muss.»