Kanzlerin Angela Merkel kann sich nach erbittertem Streit über die Flüchtlingspolitik bei der weiteren Bewältigung der Krise auf breiten Rückhalt der CDU stützen. Trotz grossen Unmuts an der Basis in den vergangenen Monaten stimmte der CDU-Parteitag in Karlsruhe mit überwältigender Mehrheit für eine gemeinsame Linie ohne Flüchtlings-Obergrenze.
In dem Kompromissvorschlag wurde aber die Formulierung hinzugefügt, dass die Zahl der Flüchtlinge «spürbar» reduziert werden müsse. «Auch ein starkes Land wie Deutschland ist auf Dauer überfordert mit einer so grossen Zahl an Flüchtlingen», sagte Merkel in ihrer Rede am Parteitag. «Deshalb wollen und werden wir die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren.»
Grenzen besser schützen
Die Zahl der Flüchtlinge will Merkel durch nationale und internationale Massnahmen. «National soll der Familiennachzug während der nächsten zwei Jahre ausgesetzt werden», so SRF-Korrespondent Adrian Arnold in Karlsruhe.
International sollen die EU-Aussengrenzen besser geschützt werden. «Zudem verspricht Merkel der Türkei mehr Geld. Damit sollen die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessert werden und dadurch der Anreiz für die Flüchtlinge nach Deutschland zu kommen, verringert werden.»
«Schliesslich will die Kanzlerin die ankommenden Flüchtlinge auf die einzelnen EU-Staaten aufteilen», so Arnold. «Da dürfte sich die Kanzlerin aber verspekulieren. Es gibt schon deutliche Signale, vor allem aus Osteuropa, dass man sich die Flüchtlingspolitik im eigenen Land, nicht von Deutschland diktieren lassen will.»
Stehende Ovationen
Merkel hatte die Partei zuvor in einer leidenschaftlichen Rede auf mehr Mut und Selbstbewusstsein in der Flüchtlingskrise eingeschworen. «Abschottung im 21. Jahrhundert ist keine vernünftige Option», sagte die Kanzlerin. Deutschland müsse ein weltoffenes und vielfältiges Land bleiben.
Eine Reduzierung der Zahl einreisender Menschen sei nur mit europäischen und internationalen Absprachen möglich. Deutschland müsse aber auch an die Folgen seines Handelns für die EU bedenken. Statt eines Ausstiegs aus dem Schengen-Raum oder dem Dublin-System sei es gerade für Deutschland viel besser, daran zu arbeiten, dass die EU-Regeln eingehalten würden. Sie forderte zugleich europäische Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen ein.
Ich weiss, die europäischen Mühlen mahlen langsam. Aber wir werden sie zum Mahlen kriegen.
Merkel wies damit Forderungen zurück, notfalls die deutschen Grenzen zu schliessen. «Kein Land ist so sehr auf Schengen angewiesen wie Deutschland», sagte sie. Die offenen Grenzen innerhalb von Europa seien für die Bundesrepublik «lebenswichtig». Deshalb müsse dafür gekämpft werden, das System zu erhalten. «Es lohnt sich, den Kampf um ein einheitliches europäisches Vorgehen zu gehen.»
Immer wieder warb die Kanzlerin in ihrer Rede um Vertrauen in die Stärke des Landes. Es gehöre zur Identität Deutschlands, «Grosses zu leisten». Sie verwies etwa auf den Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg und die Wiedervereinigung. Nach Ende ihrer mehrfach von Applaus unterbrochenen Rede erhielt die Parteichefin minutenlang stehende Ovationen.
«Gegenüber den vielen Kritikern aus der Bevölkerung war die Rede noch kein Befreiungsschlag», so SRF-Korrespondent Adrian Arnold in Karlsruhe. «Dafür müsste schon die Zahl der Flüchtlinge konkret zurückgehen.» Aber Merkel sei durch diese pragmatische Kurskorrektur ein parteiinterner Befreiungsschlag gelungen.