Einmal mehr droht Russland, der Ukraine kein Gas mehr zu liefern. Weil rund die Hälfte der russischen Lieferungen an die EU durch Pipelines in der Ukraine transportiert werden, könnte bei einem Lieferstopp auch die Gasversorgung der EU betroffen sein. Der Experte Gerhard Mangott führt aus, worin die Probleme bestehen.
SRF: Wie abhängig ist die EU noch von russischem Gas?
Gerhard Mangott: Das russische Gas macht etwa ein Drittel des Gesamtverbrauchs von rund 200 Mrd. m3 Gas in der EU aus. Gut die Hälfte der rund 60 Mrd. m3 aus Russland wurde im letzten Jahr durch das ukrainische Leitungsnetz in den Westen transportiert.
Nun warnt ja Gazprom die EU, es könne sein, dass die Ukraine unerlaubterweise Gas für sich abzweige. Wie kann das die EU kontrollieren?
Es gibt Beobachter der EU in der Ukraine, welche sowohl die Menge des in die Ukraine einströmenden wie auch jene des die Ukraine verlassenden Gases messen. Es ist also sehr leicht zu überprüfen, ob Russland tatsächlich jene Menge Gas liefert, die für Europa bestimmt ist und ob die Ukraine Gas abzweigt.
Muss man davon ausgehen, dass – falls Gazprom die Lieferung an die Ukraine in den kommenden Tagen tatsächlich stoppt – das Land dann einen Teil des für die EU bestimmten Gases abzweigen muss, weil sonst die Gasversorgung in der Ukraine zusammenbricht?
Angesichts der Jahreszeit ist der Gasbedarf hoch, ausserdem sind die Gasspeicher in der Westukraine nicht mehr sehr stark gefüllt. Für eine gewisse Zeit könnte die Ukraine also auf seine Gas-Lagerstätten zurückgreifen. Ist dieses aber aufgebraucht, müsste die Ukraine tatsächlich Gas abzweigen, das eigentlich für die EU bestimmt ist.
Als Reaktion auf diese immer wiederkehrenden Unstimmigkeiten hat die EU beschlossen, ihre Energieversorgung zu diversifizieren. Deshalb will sie heute ein Konzept für eine EU-Energieunion vorstellen. Was wird dieses Konzept enthalten?
Die EU-Kommission wird vorschlagen, mit Staaten im kaspischen Raum ins Geschäft zu kommen und Gas aus diesen Regionen nach Europa zu leiten. Bereits ist ja im sogenannten südlichen Korridor vorgesehen, Gas aus Aserbaidschan nach Europa zu transportieren. Damit können aber nur 5 bis 10 Prozent des EU-Gasverbrauchs abgedeckt werden. Laut dem neuen EU-Konzept möchte man nun auch mit Turkmenistan über Gaslieferungen verhandeln. Es soll also vermehrt Gas aus Zentralasien nach Europa kommen. Allerdings muss das Leitungsnetz dafür zuerst noch gebaut werden.
Das neue EU-Energiekonzept sieht offenbar auch vor, in Zukunft geschlossener gegenüber Gaslieferanten aufzutreten. Was ist damit gemeint?
Derzeit ist es so, dass die Gaslieferanten mit jedem EU-Land einzeln die Lieferungsbedingungen aushandeln. Neu soll die EU zum Beispiel bei Gazprom als einheitlicher Einkäufer auftreten. Man hofft so auf günstigere Konditionen, etwa beim Preis.
Offenbar sind bei der EU die Ideen für eine Diversifizierung des Gasbezugs noch nicht sehr weit gediehen. Welche anderen Möglichkeiten gibt es denn, die Gas-Abhängigkeit von Russland zu verkleinern?
Die EU könnte kurz- bis mittelfristig die Flüssiggas-Importe erhöhen. Die europäischen Flüssiggas-Terminals arbeiten alle unter ihrer Kapazitätsgrenze. Zudem gibt es weltweit ein Überangebot an Flüssiggas. Mittel- bis langfristig denkt die EU auch über eine Intensivierung der Energiebeziehungen mit den USA und Kanada nach. So könnte Flüssiggas, das dort durch Fracking gewonnen wird, per Schiff nach Europa verfrachtet werden. So könnten bis zu 40 Mrd. m3 Gas pro Jahr bezogen werden, was rund 20 Prozent des EU-Verbrauchs entspricht.
Europa bleibt aber – so weit vorausblickbar – abhängig von russischen Gaslieferungen?
Kurz- bis mittelfristig wird sich die Abhängigkeit von Russland nicht beseitigen lassen. Umgekehrt ist allerdings auch Russland von den Lieferungen nach Europa abhängig: Drei Viertel des gesamten Gasexports Russlands werden in der EU, dem westlichen Balkan oder in der Türkei verbraucht. Und in der EU erzielt Russland auch die höchsten Preise für sein Gas. Ausserdem ist die gesamte Export-Infrastruktur Russlands nach Westen ausgerichtet. Wir haben es also mit einer symmetrischen Abhängigkeit beider Seiten zu tun. Das bringt immerhin etwas Beruhigung bei der Frage, ob Russland Europa mit den Gaslieferungen erpressen könnte.
Das Gespräch führte Marc Allemann.