Das Gerücht kursiert seit langem: Im Herzen des britischen Establishments, mitten in Westminster, habe es einen Pädophilenring gegeben.
Nun gewinnt dieses Gerücht an Glaubwürdigkeit. Denn auch mehrere Prominente der britischen Unterhaltungsbranche sind in den letzten anderthalb Jahren als skrupellose sexuelle Jäger und Kriminelle - oftmals auf Kosten von Kindern - entlarvt worden.
Unabhängige Experten prüfen nun in den kommenden, wie Innenministerium, Polizei und Strafverfolgungsbehörden mit Informationen und potenziell belastendem Material umgegangen seien. Dies kündigte Innenministerin Theresa May am Montag in London an. Leiten soll die Untersuchung der Vorsitzende einer grossen britischen Kinderschutzorganisation. Ein zweites Expertengremium soll prüfen, wie öffentliche Einrichtungen mit Kindesmissbrauch umgegangen sind.
Grossbritannien tut sich schwer mit der Aufklärung
Bereits bekannt sind Missbrauchsfälle in Kinderheimen in Nordwales, Nordirland und Jersey. Dazu komme ein Gasthaus in London, dass hohe Politiker genutzt haben sollen, sagt SRF-Korrespondent Martin Alioth. «Das sind alles Hinweise auf ein Phänomen von bisher unbekannten Ausmassen.»
Die Aufarbeitung der Taten wurde dabei wiederholt behindert. Der sogenannte Jillings-Report über jahrelangen Missbrauch in Kinderheimen in Nordwales wurde von der Verwaltung 17 Jahre lang geheim gehalten – aus Angst vor Entschädigungsforderungen. Auch in den vergangenen Tagen wurden Vorwürfe laut, in der Regierungszeit Margaret Thatchers habe der damalige Innenminister Leon Brittan Unterlagen mit Vorwürfen gegen wichtige Politiker und andere Prominente verschwinden lassen.
Insbesondere soll das Ministerium in den 1980er-Jahren nicht auf ein belastendes Dossier reagiert haben, das der damalige konservative Abgeordnete Geoff Dickens an Brittan übergeben haben soll. Es werde befürchtet, dass Parteimitglieder auch in der jetzigen Untersuchung gedeckt werden könnten, sagt Alioth.
Fehlende Akten sorgen für Misstrauen
Es gehe schliesslich um Politiker, Richter, Spitzenbeamte, also um das Establishment schlechthin. Dazu kommt, dass Dokumente zu den Vorfällen in den 1980er- und 1990er-Jahren fehlen.
Das Innenministerium hatte am Wochenende eingeräumt, 114 von 527 Akten, die belastendes Material enthalten könnten, seien vernichtet oder nicht auffindbar. Dies verstärke das Misstrauen gegenüber den Behörden, stellt der Korrespondent fest. Die Frage stelle sich, ob die verschwundenen Akten als Hinweise auf eine damalige systematische Unterdrückung der Wahrheit gesehen werden können.
Fernsehonkel missbrauchte Mädchen
In letzter Zeit wurde die britische Öffentlichkeit wiederholt mit Fällen von Kindsmissbrauch konfrontiert. Besonders die «Schandtaten des Fernsehunterhalters Jimmy Savile», die letztes Jahr ans Tageslicht kamen, hätten ein Bewusstsein für die dunkle britische Vergangenheit geschaffen, sagt SRF-Korrespondent Alioth. Der neuste Fall fand letzte Woche ein vorläufiges Ende: Der britisch-australische Musiker und Fernsehstar Rolf Harris wurde wegen sexuellem Missbrauch von vier Mädchen und Frauen zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.
Der heute 84-Jährige sei für Generationen – insbesondere für Kinder – der Fernsehonkel schlechthin gewesen. «Dass der nun überführt wurde, sich jahrzehntelang als sexuelles Beutetier verhalten zu haben, hat ein Gefühl von Geborgenheit ins Wanken gebracht», erklärt Alioth. «Daher wohl auch die etwas überraschende Bereitschaft der Regierung, Licht in ein wirklich dunkles Kapitel zu bringen.»