Vor einem Jahr erschütterte das Bild eines Flüchtlingskindes, das an der griechischen Küste angespült wurde, die Welt. Der regungslose Körper des kleinen Aylan machte das Elend, das sich tagtäglich an Europas Grenze vollzieht, für einen Moment fassbar. Nun ist es wieder das Bild eines Kindes aus Syrien, das die Weltöffentlichkeit erschaudern lässt.
Apathisch sitzt ein kleiner Junge in einem Rettungswagen im zerbombten Aleppo. Wischt sich das Blut aus dem Gesicht. Sein Blick verliert sich im nichts. «Das Bild zeigt das gesamte Elend dieser Erde beschämend klar», kommentiert ein Leser auf SRF News.
Es ist wichtig, dass Bilder, die die Realität wiedergeben, an die Öffentlichkeit kommen.
Bei aller Tragik: Kann die Schockwirkung solcher Bilder auch aufrütteln? Für Peter Maurer, Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, ist es zunächst einmal traurige Normalität: «Das Bild ist emblematisch. Es zeigt, dass die Schwächsten und Wehrlosesten in diesem Konflikt am meisten leiden.»
Die Gewalt des syrischen Bürgerkriegs habe längst das tägliche Leben der Menschen, die Krankenhäuser und Helfer erreicht. Damit verkörpere die Momentaufnahme, die Realität, mit der die humanitären Helfer im Land seit mittlerweile fünf Jahren lebten, sagt Maurer: «Wenn das Bild dazu beiträgt, ein breiteres Publikum dafür zu sensibilisieren, dass die Kosten des Konfliktes jetzt endgültig zu hoch sind, hilft das tatsächlich.»
Die Gefahr der Abstumpfung
Noch wichtiger sei aber, dass die Botschaft zur internationalen Politik durchdringe: «Es müssen neue Wege beschritten werden, um eine friedliche Lösung zu finden.»
Eine Ermüdung in der internationalen Gemeinschaft stellt Maurer aber in Abrede: «Grundsätzlich bekommen wir immer noch viel Unterstützung für unsere Operationen in Syrien; wir können immer noch im Land arbeiten und viel bewirken.»
Nichtsdestotrotz: Die Gefahr bestehe, dass mit Fortdauer des Konfliktes eine «gewisse Abstumpfung» erfolge: «In dem Sinne ist es natürlich wichtig, dass Bilder, die die Realität wiedergeben, an die Öffentlichkeit kommen.»
Doch eben diese Realität in Syrien ist schwierig zu fassen – über das ganze Land betrachtet sei die Lage uneinheitlich: «Im Frühjahr etwa hat der teilweise Waffenstillstand einigen Dörfern und Städten erlaubt, zu einer provisorischen Normalität zurückzukehren», schildert Maurer.
Das Korsett für Hilfe wird enger
Von dieser ist Aleppo aktuell weit entfernt, die Stadt ist Schauplatz heftiger Kämpfe. Aufständische kontrollieren den Osten der Metropole, regimetreue Kräfte den Westen. In den Rebellengebieten leben bis zu 300‘000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen.
Selber habe das IKRK aktuell nicht die Möglichkeit, zu ihnen zu gelangen, schildert der ehemalige Staatssekretär im Schweizer Aussendepartement die Lage in Stadt: «Unsere Kollegen vom Syrischen Roten Halbmond haben jedoch gewisse Möglichkeiten, auch in von der Opposition kontrollierten Stadtteilen zu arbeiten. Aber das alles ist eindeutig zu wenig.»
Im Westen der Stadt, wo schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen ausharren, gibt es nach neuesten Berichten kaum noch Strom und ausreichend Trinkwasser. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) äusserte sich heute in «grösster Sorge» um die Bevölkerung.
Die Politisierung der Humanitären
Der Schlüssel, um das Leid der Menschen zu lindern, liege im Verhalten der Kriegsparteien. Es brauche eine Waffenruhe, Korridore für Hilfsgüter und die Möglichkeit, Menschen aus umkämpften Gebieten zu evakuieren. «Das alles geht letztlich nur, wenn die Intensität der Kämpfe abnimmt. Ohne minimalen Respekt des humanitären Völkerrechts ist es ausserordentlich schwierig.»
Um diesen steht es, wie möglicherweise gezielte Attacken auf zivile Einrichtungen und Krankenhäuser in Syrien, Jemen und Afghanistan belegen, nicht eben zum Besten. Eine besondere Herausforderung für die humanitären Helfer besteht für Maurer denn auch darin, die neutralen und unparteiischen Räume zu schützen: «Gute humanitäre Hilfe kann nur geleistet werden, wenn sie sich nicht verbindet mit weitergehenden menschenrechtlichen, gesellschaftlichen oder politischen Anliegen.»
Diese Aufgabe komme der Politik zu – und diese müsse sie, schliesst Maurer, auch wahrnehmen: «Wir sind die ersten, die eingestehen, dass dieser Krieg nicht humanitär gelöst werden kann. Es braucht politische Lösungen.»