Der gestrige Vorfall verdeutlicht, wie unberechenbar der Konflikt zwischen Amsterdamer Drogenbanden geworden ist: Am helllichten Tag wurde ein Mann inmitten eines Wohnquartiers durch mehrere Schüsse getötet. Der Tatort lag in der Nähe zweier Schulhäuser.
SRF-Korrespondentin Elsbeth Gugger berichtet, dass es sich um eine typische Liquidation innerhalb der Bandenkriege handelte: Die Täter seien mit einem Lieferwagen vorgefahren, hätten die Schiebetüre aufgerissen und das Feuer eröffnet. Etliche Schulkinder seien Zeuge der «kriminellen Abrechnung» geworden.
Die kriminelle Vergangenheit des Ermordeten legt nahe, dass es auch beim jüngsten Zwischenfall um Drogen geht. Der 43-Jährige wurde letztes Jahr zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er und seine Kumpanen über den Hafen von Antwerpen 128 Kilogramm Kokain eingeschleust hatten. Gemäss Gugger legte er Berufung ein, welche aktuell noch hängig gewesen sei. Einer der Mitverdächtigen sei bereits 2012 in einem Vorort Amsterdams liquidiert worden.
Zuvor Opfer mit marokkanischen oder türkischen Wurzeln
Der jüngste Mord unterscheidet sich hinsichtlich der Herkunft des Opfers. Es handelte sich um einen Niederländer ohne fremdländische Wurzeln. Laut der SRF-Korrespondentin wurden in den letzten Wochen und Monaten hauptsächlich Niederländer mit marokkanischen oder türkischen Wurzeln erschossen. Die Chefs der rivalisierenden türkischen und marokkanischen Gangs würden von jugendlichen Mitgliedern als «Helden mit dicken Autos, die mit Geld um sich schmeissen» bewundert.
«Keine generelle Angst»
Trotz des teils skrupellosen Vorgehens: Das Ausmass der Vorfälle kann gemäss Gugger nicht mit den Bandenkriegen in der New Yorker Bronx oder in den Armenvierteln Brasiliens verglichen werden. Auch könne man nicht von einer «generellen Angst» in der Bevölkerung sprechen. Nach Vorfällen wie gestern seien die Eltern jedoch besorgt. Die Auseinandersetzungen konzentrierten nicht auf ein gefährliches Stadtviertel. Zwischenfälle seien auch in vornehmeren Quartieren möglich.
Schwierige Fahndung
Die Fahndung der Polizei läuft auf Hochtouren, gestaltet sich laut der SRF-Korrespondentin jedoch als schwierig: «Oft ist unklar, wer überhaupt die Täter sind, weil sie sich vermummen. Wenn die Polizei jemand gefasst hat, dann schweigt der Verdächtigte meistens und ist nicht zum Reden zu bringen. Es ist laut Aussage eines Polizisten auch so, dass sich die Banden ständig neu formieren. Das macht es sehr schwierig, sie in den Griff zu bekommen.»
Liberale Drogenpolitik als Ursache?
Die Niederlande sind bekannt für eine liberale Drogenpolitik. Laut Elsbeth Gugger hat das tolerante Drogenmodell zweifellos dazu beigetragen, dass in Amsterdam Drogenhandel im grossen Stil stattfinde. Auch seien manche Leute der Auffassung, dass sich die Behörden mit dem «Toleranzmodell» ins eigene Fleisch geschnitten hätten. Demnach wäre es nicht zum jetzigen Ausmass an Drogenbandenkriegen gekommen, wenn die Regierung nicht nur den Verkauf, sondern auch den Handel von Drogen tolerieren würde.
Doch stellt sich laut der SRF-Korrespondentin die Frage, inwieweit das Land nicht ohnehin zu einem «Drogendurchfuhrland» geworden wäre. Immerhin befände sich in Rotterdam der grösste Hafen Europas.