Bei Temperaturen von über fünfzig Grad protestierten Zehntausende gegen Stromunterbrüche, gegen die insgesamt miserable Infrastruktur und die grassierende Korruption.
Zum Strassenprotest kam das Wort des höchsten schiitischen Würdenträgers. Grossayatollah Ali as-Sitani unterstützte die Forderungen der Demonstrierenden ausdrücklich. In diesem Klima präsentierte Premierminister Haidar al Abadi, seit einem Jahr im Amt, sein überaus ambitiöses Reformprogramm.
Was die Leute beschäftigt
Es ging letzte Woche ohne Widerspruch durchs Parlament: Die Infrastruktur und die öffentlichen Dienste verbessern. Das beschäftige die Leute – viel mehr noch als die Frage, ob Irak nun einen oder drei Vizepräsidenten habe, sagt der Irakexperte Zaid al Ali.
Die Leute hätten genug davon, nur ein paar Stunden Strom zu haben, keine funktionierende Wasserversorgung, keine guten Schulen, Universitäten, keine wirtschaftlichen Perspektiven. Doch wie will Abadi das ändern?
Sein Reformplan enthalte dazu keinerlei detaillierte Massnahme, sagt Zaid al Ali. Er ist Verfassungsrechtler und stammt aus einer angesehen irakischen Familie.
Auch die Bekämpfung der Korruption, dieses Grundübels, beschränke sich auf die Absicht, dass eine schon existierende Korruptionskommission wiederbelebt werden solle. Wie, bleibe offen.
Reiche kämpfen um ihre Privilegien
Anderseits hat Abadi tatsächlich schon angefangen, sein Kabinett zu verkleinern. Er werde die Reformen durchziehen, selbst wenn es ihn sein Überleben koste, versprach der Premier.
Zaid al Ali anerkennt den Willen, doch er sieht den Weg nicht. Die Parteien, die ihm jetzt öffentlich beipflichteten, beargwöhnten Abadi, wollten den Aufstieg des neuen Premiers hintertreiben. Sie seien mit dem bisherigen System sehr reich geworden und würden alles tun, um ihre Privilegien zu sichern.
Irak gehört zu korruptesten Ländern
Der Irakkenner beriet im Auftrag der Uno einst selbst die irakischen Behörden, wollte nach dem Sturz Saddam Husseins mithelfen als seine Heimat neu entworfen wurde. Sie könnte reich sein. Irak hat gewaltige Ölreserven. Aber auf den einschlägigen internationalen Indizes figuriert Irak stets aufs Neue unter den zehn korruptesten Ländern der Welt.
Exilpolitiker ohne Erfahrung aber mit umso grösseren Ambitionen kamen unter den Amerikanern ans Ruder. Eine Kultur des Klientelismus und Bereicherung durchdrang das Land. «Wie will Abadi die Parteien an die Kandare nehmen?», fragt der Irakexperte. Zumal seine eigene, die schiitische Dauwa-Partei, die wohl korrupteste von allen sei. Zaid al Ali sieht dafür keinerlei Hinweis in Abadis Programm.
Elan als politisches Manöver
Er vermisst auch Massnahmen zur Reform der Justiz, die Richter sähen heute über alle Verfehlungen der Eliten hinweg. Die Politiker hätten das Gefühl über dem Gesetz zu stehen, sagt Zaid al Ali. Doch Abadis Plan beschränke sich darauf, die Justiz zu bitten, ihre eigenen Reformen vorzuschlagen.
Manche Beobachter interpretieren den plötzlichen Elan des irakischen Premiers vor allem als politisches Manöver, als Versuch, den Einfluss seines umstrittenen Vorgängers, Nouri al Maliki einzudämmen, der Hardliner, der den konfessionellen Zwist schürte und damit Politik machte.
Maliki gilt immer noch als Mann Iraks
Tatsächlich verliert Maliki seinen Posten als Vizepräsident. Er wird auch beschuldigt, einer der Hauptverantwortlichen für den Fall von Mosul an die Terrormiliz IS gewesen zu sein. Hat Abadi, der Neuling, das Format, um den einflussreichen Expremier kaltzustellen? Zaid al Ali zweifelt daran.
Maliki gilt noch immer als der Mann Iraks. Er kann auf Unterstützung schiitischer Milizen zählen. Abadi stieg erst vor einem Jahr aus den mittleren Parteirängen auf.
Ihren Posten verlieren mit Abadis Reformen aber auch ein paar tonangebende sunnitische Politiker. Könnte das nicht umgekehrt den Zorn der sunnitischen Minderheit im Irak auf die Bagdader Eliten weiter schüren, ein Zorn der schon jetzt der sunnitischen Jihadmiliz IS in die Hände spielt? Einige Beobachter vermuten das. Zaid al Ali gehört nicht dazu. Er kennt die sunnitischen Gebiete sehr gut.
Die sunnitischen Politiker seien nicht minder korrupt, sagt Zaid al Ali. Niemand würde ihnen eine Träne nachweinen, wenn die Menschen eine alternative Perspektive hätten.
Wird der ambitiöse neue Premier Haider al Abadi sie bringen? Der Irakexperte glaubt trotz Reformen nicht daran.