Er möchte die Türkei von den Gülen-Anhängern säubern und fordert von den USA, diesen auszuliefern. Damit scheint Erdogan einen einflussreichen Teil der Opposition endgültig beseitigen zu wollen. Nach dem Putschversuch Mitte Juli wurden bislang 60‘000 Angehörige des Militärs, Richter, Beamte, Lehrer und andere Staatsbedienstete entlassen, versetzt oder festgenommen.
Für Nahost-Experte Arnold Hottinger ist klar, dass oppositionelle Kräfte aber auch nach der aktuellen Säuberung weiter wirken werden. So gebe es weite Kreise in der Türkei – vor allem in der drittgrössten Stadt Izmir – die an der Säkularisierung nach dem Modell von Staatsgründer Atatürk hängen. Dies widerspiegle sich im Parlament: Die von Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) sei mit 24 Prozent stärkste Oppositionspartei.
Hinzu kämen die extremen Nationalisten der Partei der Nationalistischen Bewegung, die Kurden und die jungen Linken, die 2013 hinter der Protestwelle auf dem Gezi-Park standen. Im Parlament sei die Jugendopposition zwar nicht vertreten. Doch habe die kurdische Partei HDP bei ihrem Wahlerfolg im Juni 2015 bewiesen, dass es ihr gelingt, auch linksgerichtete Nicht-Kurden für sich zu gewinnen.
Anzahl verzweifelter Oppositioneller nimmt zu
Sehr wohl könne der türkische Präsident auf die Unterstützung einer neuen, wachsenden Mittelschicht zählen, die dessen Streben nach mehr Islam begrüsst. Doch wachse mit Erdogans repressiven Methoden zur Ausschliessung von Gegnern auch die Anzahl «frei schwebender, verzweifelter Oppositioneller».
Auch wenn deren Grösse nicht abzuschätzen sei, steht für Hottinger fest: «Wenn Erdogan so weiter macht, kriegt er mehr gewalttätige Opposition.» Hierzu müsse auch immer die militante kurdische Untergrundorganisation PKK gezählt werden.
Justiz und internationale Gemeinschaft im Griff
Andere bisherige Gegengewichte wie die Justiz sieht Arnold Hottinger mit den jüngsten Massnahmen definitiv entmachtet. Zuletzt habe das Obergericht nicht verfassungsgemässe Gesetzesvorschläge der AKP zurückgewiesen. Es habe als hoch angesehene, unabhängige Instanz gegolten. Nun würden auch beim Obergericht ehemals respektierte Rechtsprecher durch loyale Richter ersetzt. «Erdogan will auch die Richter dominieren», fasst Hottinger zusammen.
Erdogans Feinde sind die Zeitungen, nicht die Regierungen
Aus Sicht der Amerikaner und Europäer seien das sehr wohl unangenehme Entwicklungen. Doch sei auch von der internationalen Staatengemeinschaft nur mit sehr vorsichtigem Widerstand zu rechnen. Denn Erdogan habe international eine sehr wichtige Position, die Rolle der Türkei in der Nato und Flüchtlingspolitik würden dies verdeutlichen. «Erdogans Feinde sind die Zeitungen, nicht die Regierungen», so der Nahost-Experte.
2023: Erdogans grosses Ziel
Hottinger ist überzeugt, dass Erdogan mindestens bis 2023 alles daran setzen wird, die Türkei nach seinen Vorstellungen zu regieren und zu verändern. Dann steht der 100. Geburtstag der Republik an. Auch wenn ‹pro forma› noch ein Bild Atatürks im Büro des türkischen Präsidenten hänge und Erdogan diesen aus taktischen Gründen öffentlich nie kritisiere – alleine die säkulare Haltung mache den Landesvater zu seinem Feind. Bis zu diesem gewichtigen Jubiläum werde es Erdogan primär um seine eigene Position und Macht gehen.
Um das gewünschte Präsidialsystem zu errichten und zu behaupten, werde Erdogan weiterhin viel Unterstützung mobilisieren und auf die Polizei als Instrument zur Machterhaltung setzen, sagt der langjährige Nahost-Korrespondent. Gleichzeitig würden die Spannungen zunehmen. Wie rasch oder langsam diese eskalieren, sei vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig: «Sechs Prozent Wachstum über zwanzig Jahre zu halten ist kein leichtes Unterfangen», fügt Hottinger an.
Vom Freund zum Feind: Ehemalige Weggefährten Erdogans
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Bild 1 von 12. Necmettin Erbakan (1926-2011) gilt als Mentor und Ziehvater von Recep Tayyip Erdogan. Erbakan war seit Ende der 1960er-Jahre für eine Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Sein Erfolg war spektakulär – Erbakan wurde 1997 Ministerpräsident, das Militär nötigte ihn aber zum Rücktritt. Seine Partei wurde mehrmals verboten. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 12. Der spätere Präsident der Türkei war als junger Politiker Mitglied der Partei Erbakans. Dank dieser wurde Erdogan 1994 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. 2001 trennte sich Erdogan von Erbakan und gründete seine eigene Partei, die AKP. Kurz vor seinem Tod kritisierte Erbakan seinen Zögling und forderte ihn zum Rücktritt auf. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 12. Seit den 1990er-Jahren waren sie enge Vertraute: Abdullah Gül und Edogan. Ihre Koalition verhalf dem politischen Islam zu nie gekannter Macht. Doch die zivilen Proteste 2013 entzweiten die Weggefährten. Im August 2014 übergibt Gül sein Amt an den damaligen Premierminister Erdogan – zuvor hatte er diesen öffentlich kritisiert. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 12. Heute arbeitet Abdullah Gül angeblich an einer AKP-internen Opposition, gemeinsam mit dem ehemaligen Erdogan-Freund Bülent Arinc. Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 12. Bülent Arinc war bis 2007 Parlamentspräsident und dann bis 2015 stellvertretender Ministerpräsident. Er kritisierte Erdogans Machtansprüche öffentlich. Bildquelle: Reuters.
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Bild 6 von 12. Auch Arinc war lange Zeit ein Weggefährte Erdogans: 2001 gründete Arinc zusammen mit Erdogan die Partei AKP. Heute steht er nicht mehr auf deren offiziellen Gründungsliste. Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 12. Anfang Mai 2016 tritt Ahmet Davutoglu als Ministerpräsident zurück – scheinbar freiwillig. Ein bisher einmaliger Akt in der Geschichte der Türkei. Davutoglu hatte mehrmals Kritik an Erdogan geübt. Vor allem soll er Erdogans Ziel, die Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in ein Präsidialsystem umzubauen, nicht mitgetragen haben. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 12. Bereits 2013 glaubte Erdogan, dass gegen ihn ein Staatsstreich vorbereitet werde: Der ehemalige Ex-Generalstabschef Ilker Basbug war 2013 dafür schuldig gesprochen worden. Im umstrittenen Ergenekon-Prozess waren insgesamt 275 Menschen zu teils langen Gefängnisstrafen verurteilt worden, darunter Militärs, Politiker, Journalisten und Akademiker. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 12. Im März 2014 kommt Basbug überraschend frei. Tausende hatten gegen den Ergenekon-Prozess demonstriert. Erdogan hatte mittlerweile einen neuen Staatsfeind ausgemacht: Fethullah Gülen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 10 von 12. Der islamische Prediger Gülen lebt seit 1999 im Exil in den USA. Er baute seit den 1960er-Jahren ein Netz von Schulen und Wohnheimen, sogenannten Lichthäusern auf. Den Gülen-Anhängern gehören heute Medienhäuser und Banken. Erdogan war lange einer seiner prominentesten Anhänger – nun macht er ihn für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich. Bildquelle: Reuters.
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Bild 11 von 12. Angeblich fühlt sich Erdogan umzingelt von Feinden. Nur seiner Familie vertraut er. Seinen Schwiegersohn, hier links im Bild, ernannte er zum Energieminister. Beobachter trauen Erdogan zu, ein Dynastie-System zu etablieren. Bildquelle: Reuters.
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Bild 12 von 12. Symbol des Erdogan-Systems: 2014 wurde sein gigantischer Präsidentenpalast (Hintergrund) eingeweiht: Über 1'000 Zimmer auf über 300'000 Quadratmetern. Kosten: über eine Viertelmilliarde Euro. Im Vordergrund: Das Mausoleum des türkischen Staatsgründers Atatürk. Erdogan und Atatürk stehen für zwei unterschiedliche Vorstellungen von Säkularisierung. Bildquelle: Keystone.