SRF News: Ist bei der geplanten Räumung des Flüchtlingscamps bei Calais mit Widerstand zu rechnen?
Charles Liebherr: Ja, und das mag paradox erscheinen. Denn genau genommen will ja niemand dafür kämpfen, ein Slum mit miserablen hygienischen Zuständen zu erhalten. Doch gestern haben viele Hilfsorganisationen sowie lokale Politiker dazu aufgerufen, das Zeltlager nicht sofort, sondern schrittweise aufzuheben; den Flüchtlingen also mehr Zeit zu gewähren, entweder im Containerdorf unterzukommen, das dort in der Nähe ist, oder in eines der rund 100 Auffanglager zu gehen, die im ganzen Land verteilt sind, um dort ein Asylgesuch zu stellen.
Die Zustände in den Containern sind deutlich besser. Weshalb wehren sich die Flüchtlinge gegen die Räumung des Zeltlagers?
Heute hausen sie gleich neben der Autobahn. Sie haben dieses eine Ziel im Kopf: Sie wollen sich in einem Lastwagen verstecken und so über den Ärmelkanal nach England gelangen. Das ist wegen der Sicherheitsmassnahmen am Hafen von Calais fast unmöglich geworden. Aber wenn sich die Flüchtlinge bei einer offiziellen Stelle in Frankreich melden – eben zum Beispiel in diesem Containerdorf –, werden sie registriert und müssen Fingerabdrücke abgeben. Das heisst für die Flüchtlinge, dass ihr Weg durch Europa nachgezeichnet werden kann. Schafft es jemand wider Erwarten doch nach England und beantragt dort Asyl, dann würde er oder sie wohl nach Frankreich zurückgeschafft. Darum meiden viele Flüchtlinge den Kontakt mit den Behörden.
Weshalb wollen so viele von den Flüchtlingen nach Grossbritannien? Ist es dort besser als in Frankreich?
Die Flüchtlinge sind einfach seit Monaten unterwegs, haben Tausende Kilometer hinter sich. Immer mit dem Ziel im Kopf, nach England zu gelangen. Weil sie die Sprache sprechen, dort Freunde oder Verwandte haben. Und in Calais haben sie dieses Ziel wortwörtlich vor den Augen. Diesen Menschen zu erklären, dass sie besser in Frankreich aufgehoben sind, ist sehr schwierig. Die Sprache, die schlechtere Wirtschaftslage, die Unkenntnis über dieses Land und seine Kultur sind nur ein paar Gründe, warum relativ wenige Flüchtlinge in Frankreich bleiben wollen. Obwohl sie eigentlich, das muss man auch sagen, beste Chancen hätten, hier Asyl zu erhalten.
Flüchtlingsorganisationen prangern seit Monaten die prekären hygienischen und menschenunwürdigen Zustände in Calais an und haben per Gerichtsentscheid erreicht, dass die Behörden mit den Containern die Lage verbessern. Weshalb sind auch sie skeptisch, was die Räumung betrifft?
Weil die Räumung keine wirkliche Lösung ist respektive sein kann. 4000 Flüchtlinge sind in Calais gestrandet. Das sagen die Hilfsorganisationen. Von 1000 Personen sprechen die Behörden. Diese Differenz sagt schon Einiges aus, egal welche Zahlen nun stimmen. Das Containerlager in Calais ist mit 2000 Plätzen zu klein. 500 davon sind für Frauen und Kinder reserviert. Das Zeltlager wird ausserdem nicht zum ersten Mal geleert: Es dauert jeweils nur ein paar Wochen, zum Teil sogar nur Tage, und alles beginnt wieder von Neuem. Dieses Katz- und Mausspiel kritisieren die Hilfsorganisationen. Und sie kritisieren natürlich auch die Haltung der britischen Regierung, die von dieser Realität einfach nichts wissen will.
Hilfsorganisationen kritisieren die Haltung der britischen Regierung, die von dieser Realität einfach nichts wissen will.
Der Dschungel soll also geräumt werden. Etwas weiter weg entsteht derweil ein weiteres Zeltlager. Wie geht es dort weiter?
Das ist in Grande-Synthe bei Dunkerque. Dort zeigt der grüne Bürgermeister in enger Zusammenarbeit mit Médecins sans Frontières einen anderen Weg auf. Die Gemeinde baut dort zurzeit ein Flüchtlingslager mit 250 Zelten, 2500 Betten und der dazu nötigen, einfachen Infrastruktur. Dieses Zeltlager ist offen, anders als in Calais. Das heisst, niemand wird registriert. Auf diese Weise soll es den Flüchtlingen auch möglich sein, selber zu entscheiden, was sie tun wollen; weiter zu versuchen, nach England zu gelangen, oder die Unterstützung der französischen Behörden vor Ort in Anspruch zu nehmen und in Frankreich Asyl zu beantragen. Das ist eine andere, pragmatische Herangehensweise an ein Problem, das niemand von heute auf morgen lösen kann, mit oder ohne Ultimatum.