Die Geschichtsschreibung nähert sich Politikern gerne in der Auseinandersetzung mit Einzelereignissen.
Napoleon mit der Schlacht von Waterloo. John F. Kennedy mit seinen Scharmützeln auf Kuba. Der Grosse Vorsitzende Mao Zedong mit einem Machtgemetzel, das er Kulturrevolution nannte. Und der deutsche Altbundeskanzler Helmut Kohl eben mit der Wiedervereinigung Deutschlands.
Kohl selbst sieht das freilich differenzierter. In einem ARD-Interview aus dem Jahr 2003 nennt der deutsche Bundeskanzler (1982 – 1998) drei Ereignisse, die in der Erinnerung an sein politisches Wirken von grosser Bedeutung sind: der Doppelbeschluss der Nato vom 12. Dezember 1979, den Kohl zum Schlüsselereignis des modernen Europas erhebt. Ferner «der Bau des Hauses Europa», wie er sich ausdrückt, also die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion und natürlich die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990.
Kein Kohl ohne Borschtsch
Der Nato-Doppelbeschluss von 1979 bestand aus zwei Teilen. Zum einen sollte mit der Stationierung neuer mit Atomsprengköpfen bestückter Raketen und Marschflugkörper das atomare Ungleichgewicht in Europa beseitigt werden. Zum anderen sah der Beschluss der Nato-Partner zwingende Abrüstungs-Verhandlungen zwischen den Supermächten vor.
Der Beschluss fand im deutschen Bundestag eine satte Zustimmung, obschon die Stationierung weiterer Atomwaffen in Europa von grossen Teilen der Bevölkerung ablehnt wurde. Nur zwei Monate zuvor war Kohl zum vierten Mal in Folge zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag gewählt worden. Mit einem glanzvollen Ergebnis.
Für Kohl ist dieser notabene von ihm mitgetragene Nato-Doppelbeschluss in gewisser Weise die historische Rampe zur sowjetischen Öffnung: Gorbatschows Glasnost drei Jahre später. Und diese Entwicklung wiederum bezeichnet Kohl im Interview mit der ARD als finale Voraussetzung für das Erlahmen der Definitionsmacht der ostdeutschen Bruderrepublik am Ende der 80erjahre.
Kohl hat die alten Feinde zu Freunden gemacht
Es ist unbestritten: Dem promovierten Historiker aus dem pfälzischen Oggersheim steht der Titel des «Deutsche-Einheit-Kanzlers» zu. Es ist sicherlich auch Kohls geschicktem Taktieren zwischen den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs zu danken, dass diese ihre Einstellung gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland von historischen Altlasten entrümpeln und schliesslich der Wiedervereinigung zustimmen konnten.
Erfolgreich geführte «Zwei-plus-Vier-Gespräche» (Deutschland, DDR, Frankreich, Sowjetunion, Grossbritannien und USA) im Februar 1990 und Kohls Bittfahrt zu Gorbatschow in den Kaukasus im Juli des gleichen Jahres liessen die Siegermächte am 12. September 1990 den Souveränitätsvertrag für das vereinte Deutschland unterzeichnen.
Aber eben, Kohls Einschätzung des Nato-Doppelbeschlusses zeigt: der Staatsmann Kohl weiss sehr wohl um die Gunst der Geschichte, die seine Bemühungen um ein geeintes Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen liess. Ein historischer Kontext, der vom militärischen und ideologischen Grounding der Supermacht UDSSR geprägt war.
Ohne «Aufschwung Ost» kein geeintes Europa
Der Lauf der Geschichte blieb Kohl auch in der zweiten Hälfte seiner Kanzler-Karriere geneigt. Der inzwischen zum dritten Mal gewählte Kanzler nutzte all seine Chancen. Nach dem Souveränitätsvertrag mit den Siegermächten trieb er die europäische Einigung kraftvoll weiter.
Bereits im April 1990 hatte Kohl mit seinem französischen Partner François Mitterrand die Vollendung der europäischen Union als Währungs- und als politisches Bündnis vorgeschlagen. Im Maastrichter Vertrag (1. November 1993) wurde dann die Schaffung eines solchen Bündnisses historische Wirklichkeit.
Dass aus dieser Realität (bis jetzt) kein Misserfolg geworden ist, liegt nach Auffassung Kohls in nicht unwesentlichem Mass an der wirtschaftlichen Stabilität des geeinten Deutschlandes. Und eben diese Spurtreue erklärt sich für ihn aus seinen Bemühungen, die Konsolidierung der Staatsfinanzen schon im Vorfeld der Vereinigung auf die Agenda zu hieven.
Ein «gefesselter Riese» wird 85
16 Jahre regierte Helmut Kohl die Bundesrepublik – länger als jeder andere Bundeskanzler vor und nach ihm. Für die einen war er ein reaktionärer Polterer, fast in der Tradition des bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss. Für die anderen ist Kohl die Identifikationsfigur eines historischen Glücksfalls – das Ende einer bitteren Trennung dessen, was in jedem Fall zusammengehört.
Lauscht man dieser Tage in den Blätterwald, scheint es fast so, als hätten seine Bewunderer Oberhand behalten. Vergessen seine oft ungehobelte Art im Umgang mit Berufskollegen und Wählerschaft (deren SPD-wählenden Teil er gern und oft mit der Bezeichnung «Pöbel» bedachte). Und auch vergessen sein grosser Parteifinanzierungs-Skandal, die CDU-Spende-Affäre, die ihn im Jahr 2000 den Partei-Vorsitz kostete.
Am 3. April feiert dieser «Kanzler der Einheit» seinen 85. Geburtstag. Er sitzt im Rollstuhl und macht einen ausgezehrten Eindruck – ein «gefesselter Riese», wie ihn der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel anlässlich einer Ehrenfeier im letzten Dezember nannte. Tröstlich also auch für seine Widersacher: Auch ein so ausgeprägter Machtpolitiker wie Helmut Kohl kann nicht verhindern, dass ihn die Geschichte irgendwann einholt.