Der machtbesessene türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kann seit dem letzten Wochenende nicht mehr mit einer absoluten Mehrheit im Parlament regieren. Der Soziologen Günther Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin skizziert die neue Ausgangslage.
SRF News: Wie ist der Wahlerfolg der pro-kurdischen Partei HDP in der Türkei zu erklären und einzuschätzen?
Günther Seufert: Die Kurden waren seit Gründung der Republik ein bestimmender Faktor in der Türkei. Dabei wurden sie generell als Bedrohung für die Einheit von Staat und Nation wahrgenommen. Sehr viele Türken erklärten sich daher mit der Unterdrückung der kurdischen Kultur und der kurdischen Sprache durch den Staat einverstanden.
Mit dem Streben von AKP-Präsident Erdogan nach Alleinherrschaft seit zwei Jahren hat sich die Wahrnehmung in vielen liberalen Kreisen vollkommen geändert. Vom Feind des Staats sind die Kurden zu einer politischen Bewegung und jetzt zum Schlüssel zur Erhaltung des Parlamentarismus geworden.
Die Kurden sind in der Region in den letzten Jahren zu einem wichtigen Faktor geworden, vor allem im Nordirak und in Syrien. Besteht ein Zusammenhang?
Ja. Die Schwäche dieser Nationalstaaten samt Jordanien und Libanon hat zu einer Stärkung der kurdischen Nationalbewegung geführt und ihr neuen Raum geöffnet. Das sehen wir im Irak nach dem Angriff der Amerikaner auf Saddam Hussein, wo sich letztlich ein föderaler Kurdenstaat im Nordirak etablieren konnte. Aber auch mit der Schwächung des Assad-Regimes in Syrien, wo sich im Norden kurdische Selbstverwaltungsenklaven gebildet haben. Damit werden praktisch die Grundsteine gelegt für eine zweite autonome kurdische Region in einem dieser Nationalstaaten. Das gibt der gesamtkurdischen Bewegung Auftrieb.
Könnte das zur Gründung eines kurdischen Nationalstaates führen?
Die Kurden im Irak würden gerne einen Nationalstaat gründen. Sie werden es tun können, wenn sie Teile der Nachbarstaaten überzeugen, doch das ist bisher keineswegs ausgemacht. Es gibt auch Widerstand von den Amerikanern als wichtigsten Verbündeten der Kurden im Nordirak. Es wird auch davon abhängen, ob die irakische Regierung Sunniten und Schiiten im Irak integrieren und den Staat zusammenhalten kann. Je stärker die Nationalregierung in Bagdad wird, desto geringer sind die Chancen für einen kurdischen Nationalstaat.
Wie stark sind die Kurden in Syrien? Sind sie nur eine Instrument des Westens im Kampf gegen die Terrormilizen des Islamischen Staats?
Als Instrument der westlichen Länder würde ich die Kurden in Syrien nicht bezeichnen. So haben sie etwa den Widerstand gegen den IS in der nordsyrischen Stadt Kobane mehrere Wochen fast allein halten müssen. Die Kurden sind heute sicher ein wichtiger Faktor im Kampf gegen IS. Aber nicht allein wegen ihrer militärischen Stärke, die ja viel schwächer ist als die irakische Armee oder die Bomber der westlichen und arabischen Verbündeten.
Die Bedeutung der Kurden liegt vielmehr auch darin, dass sie in Irak und Syrien ethnien- und konfessionsübergreifende politische Strukturen anstreben. Das ist ein ganz wichtiger Ansatz im Nahen Osten, der heute eigentlich nur noch politische Akteure kennt, die einer bestimmten Ethnie oder religiösen Identität verpflichtet sind.
Sie beurteilen die kurdische Politik im Nahen Osten als positiv. Kann Europa die Bewegung stärken?
Sie kann und muss es. Und zwar aus einer realpolitischen Perspektive heraus. Denn ich sehe zurzeit nicht, wie der Zerfall im Nahen Osten und dabei vor allem in Irak und Syrien aufgehalten werden könnte. Ebenso wenig, wie diese Dynamik in eine Richtung umgekehrt werden könnte, die in den nächsten Jahrzehnten stabile Staaten schafft. Deshalb muss man jene Fraktionen unterstützen, die eine rationale Politik machen und bereit sind, mit dem Westen zusammenzuarbeiten.
Das Gespräch führte Lukas Mäder.