Deutlicher als erwartet ist der Aussenseiter Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei gewählt worden. Mit über 59 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde der 66-jährige Alt-Linke schon im ersten Wahlgang gewählt.
Corbyn tritt in die Fussstapfen von Ed Miliband, der die Unterhauswahl im Mai überraschend deutlich verloren hatte und sogleich zurückgetreten war. Zum Stellvertreter Corbyns wurde im dritten Wahlgang der Abgeordnete Tom Watson gewählt, der einst zum vorzeitigen Rücktritt des früheren Labour-Premierministers Tony Blair beigetragen hatte. Labour müsste 2020 rund 100 zusätzliche Unterhausmandate gewinnen, um eine Mehrheitsregierung zu bilden.
Gegen die eigene Partei
Corbyn vertritt den Londoner Wahlkreis Islington Nord seit 1983 im Unterhaus, hat aber nie eine verantwortungsvolle Rolle für die Partei übernommen. Stattdessen hat er im Verlaufe seiner Karriere rund 500 Mal gegen seine eigene Partei gestimmt.
Der neue Oppositionsführer verspricht, die Sparpolitik der konservativen Regierung zu beenden und mithilfe der Notenpresse den Wohnungsbau und Infrastruktur-Projekte zu finanzieren. Er will die Steuern für die Bessergestellten erhöhen und die Steuerhinterziehung energischer bekämpfen.
Aussenpolitisch vertritt Corbyn Ansichten, die vom bisher gültigen Konsens stark abweichen. Er will die Militärausgaben kürzen und steht sowohl der Nato als auch der Europäischen Union kritisch gegenüber.
Der Überraschungs-Kandidat
Als die neue Labour-Fraktion nach der verlorenen Wahl die Kandidaten für den Parteivorsitz nominierten, sah es lange Zeit danach aus, als ob Corbyn es gar nicht schaffen würde. Buchstäblich in letzter Minute erbarmten sich einige Abgeordnete, die allerdings keinen Hehl aus ihrer Überzeugung machten, dass Corbyn ungeeignet wäre. Die Buchmacher gaben dem linken Kandidaten anfänglich Chancen von 200 : 1.
Doch das noch unter Miliband eingeführte, neue Wahlsystem sorgte alsbald für Überraschungen. Vor der Wahl im Mai verfügte die Labour-Partei noch über rund 200 000 Mitglieder. Schliesslich waren über 550 000 wahlberechtigt, über drei Viertel von ihnen stimmten auch ab. Die sprunghafte Zunahme der Wahlberechtigten beruhte zum einen auf einem Zustrom neuer Mitglieder, zum zweiten auf den Anträgen von Gewerkschaftsmitgliedern auf einen Wahlzettel und drittens auf der Möglichkeit, für die bescheidene Summe von drei Pfund ein zeitweiliger Freund der Labour-Partei zu werden.
Ein Politiker mit Ecken und Kanten
Während des Wahlkampfs zeigte sich schon bald, dass der dezidiert un-modische Corbyn sich scharf von seinen blassen, zentristischen Konkurrentinnen abhob. Liz Kendall, Andy Burnham und Yvette Cooper blieben blass und berechnend: Ihr Ziel war es vor allem, sich für die nächste Parlamentswahl zu positionieren und keine Wählergruppen vor den Kopf zu stossen.
Corbyn redete stattdessen, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Er vermochte damit Wählerkreise zu begeistern, die entweder neu zur Politik stiessen oder aber zu einer Labour-Partei zurückkehrten, die sie unter dem wendigen und pragmatischen Tony Blair verlassen hatten.
Droht eine Palastrevolution?
Die überwiegende Mehrheit der Labour-Fraktion teilt Corbyns politische Überzeugungen nicht. Der «Daily Telegraph» prognostizierte heute, dass rund ein Dutzend prominenter Labour-Politiker sich weigern dürften, unter Corbyn im Führungs-Team («Front Bench») zu dienen. Manche orakelten schon von einer baldigen Palastrevolution gegen Corbyn, doch das scheint überzogen.
Obwohl begründete Zweifel bestehen, ob Labour unter Corbyn je eine Parlamentswahl gewinnen könnte, werden sich die Gewichte im Unterhaus sofort verschieben. Der konservative Premierminister David Cameron verfügt nur über eine hauchdünne Mehrheit und über zahlreiche eigenwillige, widerspenstige Abgeordnete. Die neue Labour-Partei wird reichlich Gemeinsamkeiten mit der schottischen Nationalistenpartei SNP entdecken, die derzeit links von Labour politisiert. Cameron wird damit noch mehr als bisher zum Gefangenen seiner eigenen Fraktion.
Sendebezug: SRF 4 News, 13:00 Uhr