Vor dem Gespräch muss Lee Jong-Guk dringend noch eine Zigarette rauchen. Früher trank er auch, hatte Schlafstörungen. Was er am Diktatorenhof von Pjöngjang erlebte, später die fünf Jahre im Gulag, dann die Flucht – es wirkt nach.
Heute reist der 55-jährige Ex-Leibwächter von Kim Jong-Il ohne Leibwächter um die Welt. Damals, als 18-Jähriger, schien es ihm das Beste, was ihm passieren konnte: Er wurde ausgewählt, der persönliche Leibwächter des Diktatorensohns Kim Jong-Il zu sein. Ein Jahr dauerte das Selektionsverfahren: Mutproben, Kampfsport, Gehirnwäsche. Lee Jong-Guk wurde als einziger aus seiner Stadt eingestellt.
Und er kam gleich auf die Welt: Der Mann, den er Anfang der Achtzigerjahre erstmals sah, im blendend weissen Anzug, in weissen Schuhen – der Mann, der so vulgär sprach, so selbstverliebt wirkte, der mit seinem Personal rüpelhaft umsprang: Das sollte der angeblich hart arbeitende, sich pausenlos um sein Volk kümmernde, fast gottgleiche Kim Jong-Il sein? Der Sohn, der bald darauf seinen Vater beerben sollte – ein brutaler, zutiefst unsicherer, paranoider Mensch. Es war ein erster Realitätsschock nach der Indoktrination der Ausbildung.
Willkür, Luxus, Paranoia in Pjöngjang Realität
Dabei, so Lee Jong-Guk, wusste Kim Jong-Il um die nordkoreanische Tristesse, er wusste, dass sein Volk litt, dass Hunderttausende verhungerten. Bloss: Es war ihm egal. Denn er war überzeugt davon, dass das nordkoreanische Regime eine Normalisierung, eine Öffnung nie überleben würde. All die unglaublichen Dinge, die seit Jahrzehnten über die Innereien des Machtapparates kursieren – sie entsprächen im Grossen und Ganzen der Wirklichkeit, sagt er.
Kim Jong-Ils Begeisterung für Actionfilme, sein Hang zu westlichem Luxus: japanisches Essen, Mercedes-Limousinen, skandinavische Möbel, amerikanische Schnäpse, französisches Parfüm, mit denen die Räume eingesprayt wurden. Alles sei wahr. Ebenso die Angst vor Attentaten, das neurotische Wechseln von Fahrzeugen, die meterdicken Mauern um den Palast.
Und die Willkür, wie etwa die Einkerkerung eines Leibwächterkollegen, weil der sich erlaubt hatte, Kims Aschenbecher zu benutzen. Aber Lee räumt ein, dass es auch komfortabel gewesen sei, das Leben, das er zehn Jahre lang führte, ausserhalb der rauen nordkoreanischen Wirklichkeit, von der er nichts mitbekam. Bis er schliesslich seinen Dienst quittieren musste, weil ein Cousin persönlicher Fahrer von Kim war. Zwei Blutsverwandte im Dienst des Diktators, das ging nicht.
Verhaftung nach Ausflug über die Grenze
Er sah nach einem Jahrzehnt seine Eltern wieder: 50-jährig, sie sahen aber aus wie 70. Ausgemergelt, ausgehungert, wie das ganze Volk. All die Beschwörungen des Aufschwungs – leere Worte. Dem Land ging es schlechter als je zuvor. Das war Lee Jong-Guks zweiter Realitätsschock. Den Leibwächter sieht man ihm heute noch an. Klein, aber stämmig. Den Kopf wie auf dem Rücken festgeschraubt.
Starke Hände, mit denen er seine Worte unterstreicht: mit angedeuteten Karateschlägen, mit geballten Fäusten, mit Würgegesten gar. Ein energischer Mann. Frisch entlassen vernahm er, dass jenseits des Grenzflusses, in China, alles anders sei. Das wollte er sehen. Doch bei der Rückkehr griffen ihn Grenzwächter auf. Er landete im Gefängnis, im Gulag. Es folgten Folter, Hunger; fünf Jahre lang.
Als er freikam, wog er nur noch die Hälfte, war aber nun entschlossen zu fliehen. Via China auf einem Frachter nach Südkorea, wo er zunächst eine Entenfarm betrieb. Heute ist er Menschenrechtsaktivist. Für seine Heimat sieht er schwarz.
Dem Volk fehlt die Kraft, sich aufzulehnen
Der heutige, junge Diktator, Kim Jong-Un, sei noch schlimmer als sein Vater. Voller Komplexe. Mal übertrieben heiter, mal jähzornig. Und niemals, so Ex-Leibwächter Lee, werde er auf sein Atomprogramm verzichten. Dank diesem, so glaube er, befinde sich sein Land auf Augenhöhe mit den USA. Mit den Bomben erkaufe er sich zugleich die Loyalität der atomverliebten Armeespitze. Eine Evolution des Regimes hält Lee für ausgeschlossen. Eine Revolution ebenfalls: Zwar wüssten viele Nordkoreaner heute, dass sich jenseits ihrer Grenzen eine völlig andere, bessere Welt befinde. Doch der Überlebenskampf raube ihnen zu viel Kraft.
Politik fülle halt den Magen nicht. Lee Jong-Guk rechnet hingegen mit einem Putsch von oben, in ein paar Jahren. Mit einem blutigen Ende des Kim-Regimes. Das heisse aber noch längst nicht, dass etwas besser werde für die Nordkoreaner.