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International «Libyen braucht eine nationale Armee, um den IS zu bekämpfen»

Die Intervention des Westens in Libyen stürzte das Land in ein Chaos. Doch der Friedensprozess macht nun Fortschritte. Die von Islamisten geprägte, international nicht anerkannte Gegenregierung hat letzte Woche die Einheitsregierung anerkannt – dank den Vermittlern der UNO.

SRF News: Herr Kobler, in Libyen hat eine beachtliche Kehrtwende stattgefunden. Wie haben Sie das geschafft?

Martin Kobler

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Der Deutsche Martin Kobler ist Diplomat und derzeit Missionschef der UNO bei den Verhandlungen in Libyen. Vorher war er u. a. UNO-Sondergesandter für Kongo und leitete dort die Friedenstruppe Monusco. Als Botschafter Deutschlands war er in Ägypten und in Irak stationiert.

Martin Kobler: Vor allem haben das die Libyer geschafft. Wir haben dieses Abkommen, das mein Vorgänger ausgehandelt hat. Ich habe organisiert, dass wir seit November die internationale Gemeinschaft hinter uns haben, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, aber auch die Afrikanische Union, afrikanische Staaten, die Arabische Liga, und die Europäische Union. Das Abkommen wurde unterzeichnet und wir sind jetzt in der Implementierungsphase. Die Situation ist aber immer noch fragil.

War das letztlich vor allem eine Frage, wie Sie gewissen Clans Macht und Einnahmen sichern konnten?

Nein, es gab zwei Gründe, die ausschlaggebend waren. Der erste ist die wirklich furchtbare humanitäre Situation im Land. Kinder können nicht mehr geimpft werden, Schulen sind geschlossen. Ich habe selber Krankenhäuser besucht, die nicht mal Insulin hatten, das ist eine Schande. Denn Libyen ist ein potenziell reiches Land, es gibt viel Erdöl. Der zweite Grund ist die Ausdehnung des IS. Die Islamisten haben sich am Golf von Sirte ausgebreitet und werden ihre Ausbreitung fortsetzen. Das waren die zwei Hauptfaktoren, dass alle gesagt haben, es muss nun vorangehen, wir brauchen eine Regierung, die wieder für ihr Volk da ist.

Wie stark ist diese von der UNO vermittelte Einheitsregierung?

Die neue Einheitsregierung besteht auf dem Papier. Aber der Präsidentschaftsrat ist am 30 März bereits nach Tripolis eingezogen. Dieser Rat ist ein Gremium von neun Männern, inklusive dem Premierminister. Letzterer ist gleichzeitig Präsident des Landes. Er soll diesen Machtübergang geordnet und friedlich organisieren. Wir hätten alle nicht erwartet, dass es bis jetzt so friedlich abgeht. Aber das Land wird von den Milizen in Tripolis beherrscht, und es ist wichtig, dass alle an Bord bleiben, dass die Regierungen in Ost und West ein Einsehen haben und ihren Ministern nun nahelegen, die Geschäfte zu übergeben.

Die IS-Terroristen haben sich am Golf von Sirte ausgebreitet.

Was ändert sich konkret für Libyen mit dieser Einheitsregierung?

Die Probleme werden in Angriff genommen werden müssen, insbesondere erstens die Sicherheitslage. Der IS dehnt sich nach Süden, nach Osten und nach Westen aus. Er hat Gebiete 200 Kilometer entlang des Golfs von Sirte besetzt. Es ist wichtig, dass die Terrormiliz eingedämmt wird. Dazu braucht man eine Armee, aber diese Armee gibt es noch gar nicht. Ein Verteidigungsminister muss eine Armee aufbauen. Es muss ein Verteidigungsminister sein, der für das ganze Land zuständig ist. Diese nationale Aufgabe muss zügig angegangen werden. Zweitens braucht die internationale Gemeinschaft einen Ansprechpartner, wenn sie mit der Regierung verhandelt. Humanitäre Hilfe ist eines der wichtigsten Dinge, aber auch Hilfe beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen. Die Polizei muss wieder funktionieren. Die Armee muss wieder funktionieren, und das ist ganz schwierig, weil vieles in diesem Lande zum ersten Mal gemacht wird.

Welchen Einfluss hat die Tatsache, dass die libysche Investitionsbehörde, die staatliche Ölgesellschaft und die Zentralbank deutlich gemacht haben, dass sie diese Einheitsregierung unterstützen?

Das war ganz wichtig. Es war die erste Aktion des Präsidentschaftsrates, dass er die Kontrolle über die Zentralbank hat. Dies wurde mit unserer Beteiligung vorbereitet, denn es ist zentral, dass man die Autorität über das Geld hat. Die Zentralbank zahlt über den Präsidentschaftsrat Geld an die Behörden aus, und auch an die Milizen im Übrigen. Sie bezahlt die Löhne. Im Ganzen sind es vier Organisationen, die erklärt haben, hinter der Einheitsregierung zu stehen: die Zentralbank, die Ölgesellschaft, die sehr mächtige Investitionsgesellschaft und die zivile Luftfahrtbehörde. Letztere wurde aus praktischen Gründen miteinbezogen, denn seit Januar haben wir keine Einfluggenehmigung bekommen. Wir konnten also nicht nach Tripolis fliegen. Seit der Präsidentschaftsrat da ist, können wir das wieder.

US-Präsident Obama sagt, es sei sein grösster politischer Fehler gewesen, dass der Eingriff in Libyen vor fünf Jahren zu wenig durchdacht gewesen sei und nun Chaos herrsche. Welche Rolle soll der Westen spielen?

Audio
Der Architekt der libyischen Einheitsregierung
aus Echo der Zeit vom 11.04.2016. Bild: Reuters
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 16 Sekunden.

Ich kann der Einschätzung Obamas nur zustimmen. Ich glaube, dass man 2011 einen Fehler gemacht hat. Wenn man die Entscheidung trifft zu intervenieren, dann muss man auch die Nachfolgeschritte bedenken, und man kann nicht sagen, jetzt wird interveniert und dann überlassen wir die Revolution den Libyern selber. Aber es ist nicht nur eine Frage des Westens. Es ist auch eine Frage der Nachbarstaaten, vor allem Tunesiens und Ägyptens. Ägypten hat eine 1200 Kilometer lange Grenze zu Libyen. Und Tunesien ist das letzte Land des Arabischen Frühlings. Es wird von Terroranschlägen aus Libyen heimgesucht. Dann sind da die Südstaaten Niger und Tschad. Es ist in deren Interesse, dass die libysche Einheitsregierung zu Stande kommt. Der Westen hat seine eigenen Interessen. Er will die Ausdehnung des IS stoppen und die Frage der Migrationsströme nach Europa angehen. Der hauptsächliche Druck geht aber von den Anrainerstaaten aus. Sie wollen, dass es nun zu einer Regierung kommt. Und dass diese Regierung arbeitet und sich vor allem der Eindämmung des IS annimmt.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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