SRF News: Mit welcher Begründung wollen die russischen Behörden den Medschlis verbieten?
David Nauer: Die Staatsanwaltschaft stuft den Medschlis als extremistische Organisation ein. Unter anderem deswegen, weil mehrere Medschlis- Aktivisten an der Blockade der Krim beteiligt sind: Sie hindern Lastwagen, die Lebensmittel auf die Halbinsel bringen sollen, an der Weiterfahrt. Der Vorwurf des Extremismus ist ein starker Hinweis dafür, dass es sich um ein politisch motiviertes Verfahren handelt. Das ist im heutigen Russland gängige Praxis, um gegen Oppositionelle und Andersdenkende vorzugehen.
Welche Rolle spielt der Medschlis für die Krimtataren?
Er ist die wichtigste Organisation, eine Art Nebenregierung, der Krimtataren. Stalin hatte das Volk nach Zentralasien deportieren lassen. Erst in den 1990er-Jahren konnte es in seine historische Heimat, die Krim, zurückkehren. Aufgrund dieser tragischen Geschichte sind die Tataren so skeptisch gegenüber Moskau. Der Medschlis wurde nach der Rückkehr aus der Verbannung gegründet. Unter ukrainischer Kontrolle vertrat er die sozialen und politischen Interessen der rund 200‘000 Tataren auf der Halbinsel. Seit Russland die Halbinsel annektiert hat, führt die Organisation einen verzweifelten Kampf gegen die neuen Herrscher.
Der Vorwurf des Extremismus ist ein starker Hinweis dafür, dass es sich um ein politisch motiviertes Verfahren handelt.
Kürzlich hat eine Delegation des Europarats die Krim besucht. In ihrem Bericht hielt sie fest, es gebe auf der Halbinsel keine «kollektive Repression gegen die krimtatarische Minderheit». Sehen Sie das auch so?
Die Tataren werden nicht als Tataren verfolgt. Russland ist ein Vielvölkerstaat und es gibt viele, auch muslimische Völker wie die Tataren, die nicht verfolgt werden. Die Tataren stehen aber dennoch enorm unter Druck, weil sich viele gegen die russische Annexion der Halbinsel wehrten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat kürzlich in einem Bericht massive Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Die Opfer sind meist politisch aktive Tataren. Es gibt regelmässig Hausdurchsuchungen, zahlreiche Menschen wurden verhaftet. Auch kommt es immer wieder zu Prozessen und sogar zu ungeklärten Morden an Krimtataren. Es entsteht der Eindruck, dass Moskau die Krim von allen störenden Elementen säubern will. Und da kommen die Tataren unter den Hammer.
Nehmen wir an, das Oberste Gericht bestätigt das Verbot des Medschlis. Hätte dieses Urteil eine Wirkung über die Krim hinaus?
Nicht direkt. Aber ein Verbot wäre ein weiteres Signal dafür, dass Widerspruch in Russland nicht mehr geduldet wird. Das politische Klima in dem Land hat sich in den letzten Monaten verschlechtert, ist rauher geworden. So verschärften die Behörden beispielsweise das Demonstrationsrecht, Sicherheitsorgane erhielten weitere Befugnisse und Präsident Wladimir Putin schafft sich gerade eine mehrere hunderttausend Mann starke Sondertruppe, die politischen Protest niederschlagen soll.
Die Mehrheit der Russen steht hinter der Annexion, respektive hinter der Wiedervereinigung der Krim mit der russischen Heimat.
Seit der Annexion der Krim durch Russland sind zwei Jahre vergangen. Gibt es in Russland kritische Stimmen, welche die Rechtmässigkeit der Annexion in Frage stellen?
Die Mehrheit der Russen steht hinter der Annexion, respektive hinter der Wiedervereinigung der Krim mit der russischen Heimat. Zwar sind lange nicht alle Russen immer mit Putin einverstanden: Viele kritisieren dessen Innen- und Wirtschaftspolitik, vor allem jetzt in der Krise. Aber die Aussenpolitik des Kremls, ganz besonders in Bezug auf die Ukraine, ist nach wie vor sehr populär. Es gibt aber auch Leute, welche die Annexion als das sehen, was sie war, nämlich eine völkerrechtswidrige Annexion eines Teils eines Nachbarlandes. Aber im Moment ist es nicht ratsam, so etwas in Russland laut zu sagen. Die meisten Kritiker sind deshalb eher still.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.