Es ist die Schlacht aller Schlachten: Aus den Ländern Europas ziehen zehntausende Soldaten nach Waterloo, rund 15 Kilometer von Brüssel entfernt. Napoléon, kurz zuvor aus dem Exil in Elba zurückgekehrt, will Frankreich retten und in den Annalen der Welt gefeiert werden.
Doch es kommt anders: Kaiser Napoléon I. führt sein letztes Gefecht. Innerhalb weniger Stunden sterben am 18. Juni 1815 mehr als 45'000 Soldaten, die Niederlage ist total, ein neues Zeitalter wird eingeläutet.
Grosser Staatsmann oder grauenhafter Kriegsherr?
Heute pflegt Europa ein zwiespältiges Verhältnis zu Napoléon, dem grossmächtigen Mann, der vor 200 Jahren herrschte. Während er beinahe den ganzen Kontinent in Brand setzte und Frankreich regierte wie Cäsar einst das antike Rom, trug er entscheidend zur Modernisierung der europäischen Staaten bei.
Er zerstörte das Europa des Ancien Regime und verhalf dem modernen Staats- und Nationsgedanken zum Durchbruch. In Frankreich prägte er die Verwaltungs-, Finanz- und Rechtsorganisation. Auch die Schweiz hat ihren modernen Staat Napoléon zu verdanken.
Vor allem in Frankreich pflegt man die Legende Napoléons als grossen Anführer. Man bewundert ihn, man verklärt ihn, eine französische Leidenschaft eben. Leidenschaftlich ist das Verhältnis der Franzosen zu ihrem Anführer geblieben, bis heute. In kaum einem anderen Land wird von einem Präsidenten so viel erwartet wie in Frankreich.
Fixierung auf Präsidenten
Tatsächlich räumt die französische Verfassung der nunmehr V. Republik ihrem Präsidenten eine zentrale Stellung ein. Der französische Präsident wird direkt vom Volk gewählt, für fünf Jahre. Nicht der Präsident persönlich, sondern nur der von ihm eingesetzte Premierminister ist gegenüber dem Parlament direkt für sein Handeln zu Rechenschaft verpflichtet. Frankreich wird darum immer mal wieder spöttisch als die einzige Republik der Welt bezeichnet, an deren Spitze ein Monarch stehe.
Dem ist natürlich nicht so. Aber diese Bezeichnung bringt zum Ausdruck, dass das aktuelle politische System in Frankreich rund um eine starke Präsidialfunktion herum gebaut ist. Das ist mitverantwortlich für die überhöhte Fixierung der nationalen Politik auf die Person des Präsidenten, der für alles verantwortlich gemacht wird. Vom Präsidenten wird erwartet, dass er sich um alles zu kümmert. Aber auch die Medien haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die Funktion des Präsidenten so stark personalisiert wurde.
Kritiker fordern Systemwechsel
Kritiker dieser Entwicklung fordern darum schon seit längerer Zeit eine öffentliche Debatte darüber, ob das aktuelle politische Präsidial-System nicht besser zu reformieren sei. Sie wünschen sich eine VI. Republik, in welcher das Parlament deutlich gestärkt würde. Ebenfalls würde der Zentralstaat gegenüber der Regionen geschwächt.
Eine solche Reform des politischen Systems ist in Frankreich aber nicht absehbar und nichts deutet darauf hin, dass sie bald einmal angeschoben würde.
Tagesschau 12.45 Uhr, 18.6.15