«Haifa, Netanya, Jerusalem». Die Fahrer am Busbahnhof in Tel Aviv rufen ihre Destinationen aus. Die Minibusse, die Sherut, stehen bereit. Tel Aviv, die Millionenagglomeration an der Mittelmeerküste, ist das Wirtschaftszentrum Israels. Hier stehen Glaspaläste, es gibt topmoderne Forschungseinrichtungen. Die Mikroelektronik boomt, ebenso die Rüstungstechnologie und Internet-Firmen.
Das Leben ist (zu) teuer
Aber es gibt auch grosse soziale Not. Das Quartier im Süden um den Busbahnhof ist glanzlos. Dort hat Arik seinen Laden. Was ist das grösste Problem von Israel? «Alles ist so teuer», sagt er. Damit ist er nicht allein. Die hohen Lebenshaltungskosten sind gemäss Umfragen die Hauptsorge der Bevölkerung. Arik verkauft billige Parfüms, Schreibwaren, die Strümpfe zum halben Preis liegen in grossen Wühltischen. Die Nachfrage ist rege.
Über der Kasse laufen die Abendnachrichten, der Fernseher zeigt Premier Benjamin Netanjahus Herausforderer Jitzchak Herzog auf Wahlkampftour. Herzogs Arbeitspartei hat letztes Mal schlecht abgeschnitten. Doch diesmal zeigt sich der Oppositionsführer überzeugt, dass er mit einer Mitte-Links-Koalition den Langzeitpremier in die Knie zwingen kann.
Kein Land für die Palästinenser
Auf Vereds Stimme kann Herzog zählen. Die 42jährige Frau kommt gerade durchs Drehkreuz auf den Platz mit den Sammeltaxis, zwei Einkauftaschen in ihrer Hand. Sie war zu Besuch bei ihrer Schwester und will nun nach Hause, nach Rishon Lezion, südlich von Tel Aviv. Vereds Tochter dient gerade in der Armee in der besetzten Westbank.
Netanjahu gibt in diesem Wahlkampf unmissverständliche Signale nach Rechtsaussen, dass er den Palästinensern kein Land abtreten werde. Vered zuckt mit den Schultern, ihre Sorgen sind nicht bei den Palästinensern sondern zuhause.
Die beiden Söhne gehen noch zur Schule. Vered und ihr Mann arbeiten beide. Sie in einer Kantine, er als Hausabwart. Und doch schaffen sie es nur, die Kinder gerade so durch zu bringen. Um ihnen irgend etwas übers Nötigste hinaus anzubieten, reicht das Geld nicht, sagt Vered.
Von Premier Netanjahu ist Vered schwer enttäuscht. Lauter leere Versprechen. Ihre ganze Verwandtschaft hat stets Netanjahs Likud-Partei gewählt. Doch sie alle, auch ihr Mann, würden diesmal für den Herausforderer Herzog einlegen.
Die iranische Gefahr zieht nicht
Arik, der Ladenbesitzer, hält das für die falsche Strategie. «Herzog ist schwach. Wir aber brauchen einen starken Mann als Premier», sagt er. «Und das ist Netanyahu. Trotz allem.» Seine Stimme aber will Arik nicht Netanjahu, sondern dessen ehemaligem Kommunikationsminister Mosche Kachlon geben. Kachlons Leistungsausweis: Er hat die Telefongebühren drastisch gesenkt.
Arik spekuliert, dass sich Kachlons Partei Kulanu am Ende als Juniorpartner in einer Koalition mit Netanyahu wiederfindet; einer Koalition mit dem bewährten Premierminister und einem sozialem Gewissen. So Ariks Hoffnung.
Unterdessen sind die Abendnachrichten über seiner Kasse einmal mehr bei Netanjahus Lieblingsthema angelangt: der iranischen Gefahr. Doch niemand schaut hin. Hier am Busbahnhof von Tel Aviv haben die Leute dringendere Sorgen.