Der Kampf um die Separatistenhochburg Donezk in der Ostukraine nimmt an Härte zu. Erstmals griff die ukrainische Luftwaffe Ziele nahe des Zentrums der Grossstadt an. Bei den Attacken auf Stellungen der Aufständischen starben mindestens drei Zivilisten, wie der Stadtrat von Donezk mitteilte. Zudem seien Artilleriegranaten in mehrere Wohnhäuser eingeschlagen. Auch eine Gasleitung sei beschädigt worden.
Seit Wochen gebe es Angriffe, sagt Christian Wehrschütz in Donezk, Korrespondent des ORF in der Sendung «10vor10». «Es wurden Bezirke beschossen, die nahe am Stadtzentrum liegen, und damit rückt die Front immer näher.»
«Massenexodus ist eine Kulturschande»
Donezk habe 950‘000 Einwohner gezählt. 300‘000 seine inzwischen geflohen, sagt Orf-Korrespondent Christian Wehrschütz. «600‘000 Menschen wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Aber wo sollen die Leute hin? Es gibt keine Auffanglager und viele kommen gar nicht weg.»
«Die Aufforderung, die Stadt zu verlassen, halte ich für eine Kulturschande», sagt Wehrschütz. «Ebenso, dass Europa dazu schweigt. Das ist eine Aufforderung zu einem Massenexodus aus Donezk.»
«Die Erstürmung steht unmittelbar bevor, aber wir sind gut darauf vorbereitet», vermeldete der Separatistenführer Sergej Kawtaradse. Die Armeeführung in Kiew betonte hingegen, sie plane keine Offensive auf die Stadt.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einem Telefongespräch Russlands Präsidenten Wladimir Putin aufgefordert, die Separatisten in der Ostukraine zu einem beiderseitigen Waffenstillstand mit Kiew zu drängen. Sie zeigte sich besorgt, dass von Russland aus Nachschub für die Separatisten geliefert werde, verlautet aus dem Kanzleramt.
Gefahr eines russischen Einmarsches
Nicht nur die verbliebenen Einwohner in Donezk, auch die restliche Ostukraine muss möglicherweise mit einem russischen Einmarsch rechnen. Für SRF-Korrespondent Christof Franzen in Moskau ist ein «militärischer Einmarsch im Moment nicht die wahrscheinlichste Variante. Sie ist aber realer als auch schon», sagte er in «10vor10».
Bis jetzt seien das nur Drohgebärden gewesen. Jetzt werde es aber schwieriger für Putin, sagt Franzen, denn die Separatisten befänden sind auf der Verliererseite – trotz der massiven Unterstützung aus Russland. Auch Kiew sei nicht mehr bereit zu politischen Kompromissen, was die Westintegration der Ukraine angeht. Und auch der Westen stünde nach dem Flugzeugabschuss über der Ostukraine geeint gegen Russland.
«Putin ist also in einer Sackgasse, er hat keine guten Optionen mehr. Jetzt, in die Ecke gedrängt, ist es nicht mehr ausgeschlossen, dass es zu einem militärischen Einmarsch kommt, was dann aber als Friedensmission getarnt würde», beurteilt Franzen die Situation.
Position Russlands ist entscheidend
Kiew ist hingegen zuversichtlich, den Kampf um die Ostukraine bald für sich zu entscheiden. Ob das ein realistisches Szenario ist, hängt laut Martin Zapfe vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich von der Haltung Russlands ab, sagte er in «10vor10».
«Wenn Russland den Separatisten in der Ostukraine nicht hilft, dann kann es schnell gehen, und der Widerstand zerfällt. Wenn aber klar ist, dass Russland eingreift, kann es lange dauern, weil die Separatisten dann jede Motivation haben, den Kampf möglichst lange fortzuführen», sagt Zapfe.
Nach seiner Einschätzung sind die 10‘000 bis 20‘000 Soldaten, die laut der Nato an der Grenze zur Ukraine stehen, eine ausreichend grosse und ausreichend ausgerüstete Streitmacht, um sehr effektiv vorgehen zu können. Sie wären in der Lage, den Belagerungsring um Donezk und Luhansk zu sprengen und vielleicht sogar die ukrainische Armee zurückzudrängen.
Der einzige Weg aus der aktuellen Eskalation zwischen der Ukraine und Russland sei es, Putin eine gesichtswahrende Option zu bieten, erklärt Zapfe. «Ich hoffe, dass diplomatisch daran gearbeitet wird, einen Weg zu finden, wie er die Unterstützung für die Aufständischen einstellen kann und trotzdem innenpolitisch einen Erfolg für sich beanspruchen kann. In Russland würde derzeit jedes Zurückweichen als Schwäche gewertet.»
OSZE-Beobachter ziehen ab
Als Reaktion auf die verstärkten Gefechte wurde ein Teil der OSZE-Beobachter zurückbeordert. «Wir waren aus Sicherheitsgründen gezwungen, das Team zu verkleinern», sagte OSZE-Sprecher Michael Bociurkiw in Kiew. Auch aus der Region Lugansk, wo ebenfalls Regierungseinheiten gegen pro-russische Separatisten kämpfen, habe die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Mitarbeiter abgezogen.
Auch die Mission zur Bergung der sterblichen Überreste und persönlicher Gegenstände der Opfer des Fluges MH17 wurde wegen der Kämpfe vorerst eingestellt. Das teilte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte Mittwochabend in Den Haag mit. Der Einsatz sei für die rund 100 Kräfte aus den Niederlanden, Australien und Malaysia zu gefährlich geworden. Sie solle fortgesetzt werden, wenn die Sicherheitslage dies ermögliche.