SRF News: Wie erklären Sie sich die schwache Polizeipräsenz bei der Kundgebung in Ankara?
Ekrem Güzeldere: Der Anschlag fand vor dem Bahnhof statt, der Versammlungsort liegt etwa zwei Kilometer entfernt. Man kann sicher nicht ganz Ankara, eine Stadt von 4 Millionen Einwohnern, kontrollieren und überall Personenkontrollen durchführen, aber die Tatsache, dass ein solcher Anschlag im Zentrum der Hauptstadt möglich war, zeigt entweder, dass staatliche Stellen, zum Beispiel Geheimdienste oder Polizei versagt haben, oder eben nicht einschreiten wollten.
Gehen Sie davon aus, dass es eine Mitwisserschaft bis auf allerhöchste Ebene gab?
Man kann sicher keine direkte Linie zwischen der Regierung oder dem Präsidenten ziehen, aber ohne staatliche Unterstützung oder wenigstens Duldung kann man im Zentrum Ankaras keinen Anschlag dieser Grössenordnung verüben.
Welches Interesse hätten staatliche Stellen daran, dass solche Anschläge verübt werden können?
Die Strategie Erdogans seit den Wahlen vom 7. Juni ist, auf Eskalation zu setzen. Er versucht so, die pro-kurdische und linke HDP-Partei zu kriminalisieren und durch Terror und Gewalt linke und liberale Türken zu bewegen, die HDP nicht mehr zu wählen, damit sie unter die zehn Prozent-Hürde fällt.
Der Preis, den die Regierung für solche Anschläge zahlt, wäre sehr hoch.
Die Türkei zahlt bereits seit Juni einen sehr hohen Preis. Es sind fast 700 Personen, Polizisten, Soldaten, Zivilisten, PKK-Angehörige seit Juni gestorben. Das wird bis zu den Wahlen am 1. November wohl in dieser aufgeladenen Stimmung weitergehen.
Sind Verbindungen zwischen der Regierung Erdogan und der Terrormiliz «Islamischer Staat» denkbar?
Die türkische Syrien-Politik seit Beginn des arabischen Frühlings war, jegliche Opposition gegen Assad zu unterstützen, ausser den Kurden. Das fing mit der freien syrischen Armee 2011 an und weitete sich auf andere – auch radikalere islamistische – Gruppen aus, wie beispielsweise dem Al-Kaida-Ableger al Nusra, und ist indirekt auf den «IS» angewendet worden. Die Grenze wurde offengehalten für Kämpfer und Waffen. Der AKP ist der IS als Nachbar lieber als kurdische Gruppen, die der PKK nahestehen. Es gibt sicher Beziehungen zwischen Staat und «IS».
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In der Türkei gibt es alte Seilschaften aus der Ära vor Präsident Erdogan, den sogenannten «Tiefen Staat». Für wie plausibel halten Sie die These, dass diese Organisation in die Anschläge involviert war?
Ein bekannter, verurteilter Mafiaboss und rechtsradikaler Terrorist hat bei einer Demonstration einen Tag vor dem Anschlag in Ankara gesagt hat, dass «Ströme von Blut fliessen werden». Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Der «Tiefe Staat» wurde gerade in den letzten Jahren geschwächt, aber verschwunden ist er nicht. Im konkreten Fall gibt es aber keine Hinweise darauf, dass es Verbindungen zwischen diesen rechtsradikalen Terroristen und IS-Sympathisanten gibt.
Präsident Erdogan will am 1. November die absolute Mehrheit erreichen, die er bei den letzten Wahlen verpasst hat. Nützt ihm nun dieser Anschlag von Ankara?
Die Frage wird sein, was passiert, wenn das Ergebnis dem vom Juni ähnelt und es keine absolute Mehrheit für eine Partei gibt.
Das muss man natürlich abwarten, aber ich glaube nicht. Das Wahlverhalten der Türkei ist mittlerweile so stabil, dass es nur noch ganz geringe Wählerwanderungen gibt. Die grosse Frage wird eher sein, was passiert, wenn das Ergebnis ungefähr demjenigen vom Juni ähnelt und es keine absolute Mehrheit für eine Partei gibt. Wird dann die AKP nochmals wählen lassen oder sich auf eine Koalition einlassen?
Das Gespräch führte Hans Ineichen.