Visegrad ist eine kleine Stadt im Norden Ungarns – und ein Reizwort in Brüssel. Dort schimpft man derzeit gern über die vier Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, die sich vor 25 Jahren in Visegrad auf eine engere Zusammenarbeit einigten.
Nicht nur Verhinderer
Es sei derzeit Mode, schlecht über die Visegrad-Gruppe zu reden, sagt der slowakische Politologe Milan Nic vom Think Tank Globsec. Lange Zeit sei die Gruppe unterschätzt und nicht einmal wahrgenommen worden. Erst ihr beharrlicher Widerstand gegen eine EU-weite Quote zur Verteilung von Flüchtlingen brachte ihr Aufmerksamkeit. «Damit trug sie dazu bei, dass der Beschluss, Geflüchtete nach Quoten auf EU-Länder zu verteilen faktisch nicht umgesetzt wird.»
Allerdings war das eben negative Aufmerksamkeit. Dabei habe die Visegrad-Gruppe in anderen Bereichen einiges geleistet, sagt Nic. So sei die Lösung der russisch-ukrainischen Gaskrise dank glänzender diplomatischer Arbeit der Visegrad-Staaten gelungen. Auch habe die Gruppe im EU-internen Streit um Klimaziele zu einem Kompromiss beigetragen. Ausserdem war auch Zentraleuropa noch vor kurzem eine Region voller Spannungen – etwa zwischen Ungarn und der Slowakei. Dank der Gruppe, und dank europäischer Unterstützung, arbeite man jetzt zusammen.
Kaczinsky und Orban schiessen gegen Brüssel
Doch jetzt sorgt die Gruppe in Westeuropa wieder für Ärger. Vor allem der Chef der polnischen Regierungspartei Jaroslaw Kaczinsky und der ungarische Premierminister Viktor Orban schimpfen regelmässig auf die EU. Sie fordern weniger Macht für Brüssel, dafür mehr für die EU-Hauptstädte. Die Visegrad-Gruppe seien vier Länder, sagt Nic. «Und Orban ist einfach der Lauteste von ihnen. Er missbraucht die Gruppe als Plattform für seine Ziele.»
Am Gipfel in Bratislava werde sich zeigen, dass die zentraleuropäischen Länder die Zukunft der EU unterschiedlich sehen, sagt Nic. Das Euro-Land Slowakei sei zu mehr fiskalpolitischer Zusammenarbeit bereit, um die gemeinsame Währung zu stabilisieren – also zu mehr EU. Tschechien seinerseits wolle auf jeden Fall seinen guten Draht zu Deutschland bewahren.
Kaczinsky und Orban glauben nicht daran, dass die EU in ihrer heutigen Form überlebt.
Und da sind noch die EU-Kohäsionsgelder, die für alle Länder im Osten der EU wichtig sind. Doch der Milliardensegen hält die polnische und die ungarische Regierung nicht davon ab, einer kleineren EU das Wort zu reden. «Die werden die Kuh zwar noch zwei, drei Jahre melken – bis 2020 sind die Gelder ja beschlossen», sagt Nic. Doch die beiden Länder würden nicht daran, dass die Kohäsionspolitik nach 2020 so weitergeht. «Weil sie nicht daran glauben, dass die EU in ihrer heutigen Form überlebt.»
Also drischt man heute schon nach Belieben auf die EU ein. Und wenn es ihr schadet, bekommt man später auch noch Recht. Diese Haltung sei selbst für Zentraleuropa extrem, sagt der Politologe Nic. «Die polnische und die ungarische Regierung haben sich mit ihrer scharfe EU-Kritik zu Aussenseitern gemacht.»
EU-Länder zweiter Klasse
Was andere Staaten im Osten der EU mit den beiden teilen, ist das Gefühl, in der EU nach wie vor Mitglieder zweiter Klasse zu sein. Hinzu kommt das Gefühl, westeuropäischem Populismus schutzlos ausgeliefert zu sein, etwa wenn westeuropäische Länder über osteuropäische Arbeitskräfte stöhnen oder gar polnische Zuwanderer für den Brexit verantwortlich gemacht werden.
Einig sind sich die Visegrad-Länder auch, dass ihnen die Briten in der EU fehlen werden. London war ein mächtiger Vertreter der nationalen Souveränität, ein Gegenspieler der vielen Entscheidungsträger in Brüssel, die die Zukunft Europas in einer stärkeren Union sehen. Kurz: Ein Stachel im Fleisch der EU.
Dass die Visegrad-Gruppe selber nun diese Rolle übernehmen könnte, glaubt Nic aber nicht. «Die Chance, in der EU eine Rolle als Mahner zu spielen, haben sie verspielt, dafür waren sie zu unvorsichtig», so Nic. Insbesondere Kaczinsky und Orban gingen einfach zu weit und würden als Politiker gesehen, die nur ihre Macht zu Hause im Blick haben.
Das macht die Ausgangslage für die Gipfelgespräche in Bratislava zwar kompliziert, aber auch interessant. Denn es treffen nicht zwei Blöcke mit extremen Positionen aufeinander, sondern viele Länder mit nuancierten Positionen.