Ungarns rechtspopulistische Regierung erhöht mit einer Abstimmung gegen die EU-Flüchtlingspolitik den Druck auf Brüssel. Die Ungarn sollen am 2. Oktober über die von der EU geplante Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten abstimmen. Schon jetzt beginnt die ungarische Regierung mit einer sogenannten Informationskampagne.
SRF News: Wie sieht die Kampagne aus?
Urs Bruderer: Die Regierung hat Radio- und Fernsehspots angekündigt. Sie will Plakate an den Strassen aufhängen lassen und Inserate in Zeitungen sowie im Internet schalten. Es ist also eine grosse Kampagne, in der es aber leider nicht um Information geht, sondern um Propaganda, eher sogar um Hetze der übleren Art. Ein Slogan, der aufgehängt werden soll, lautet zum Beispiel: «Wussten Sie, dass seit dem Anfang der Einwanderungskrise über 300 Leute in terroristischen Anschlägen ums Leben gekommen sind?»
Es ist eine grosse Kampagne, in der es aber leider nicht um Information geht, sondern um Propaganda, eher sogar um Hetze der übleren Art.
Da wird einerseits Angst geschürt, andererseits sehr bewusst das Thema der Migration und der Flüchtlingskrise mit dem Terrorismus vermischt. Zum Teil wird auch Desinformation betrieben: Auf einem Plakat soll es heissen, die EU wolle Ungarn eine ganze Stadt an Flüchtlingen zumuten. Das ist schlichtweg falsch. Laut den Plänen der EU-Kommission sollte Ungarn derzeit etwa 2300 Flüchtlinge aufnehmen.
Wie kommt die Kampagne beim Volk an?
Gar nicht so schlecht. In Umfragen zeigt die ungarische Bevölkerung immer wieder besonders grosse Fremdenangst, um nicht zu sagen Fremdenfeindlichkeit. Man muss also vermuten, dass die Regierung mit einer solchen Kampagne ihre Bevölkerung anspricht, und das weit über ihre Wähler hinaus.
Mit dem Flüchtlingsthema hat sich die Regierung letztes Jahr wieder an die Spitze der Wählerumfragen zurück gearbeitet. Darum hält sie es jetzt am Kochen.
Die Regierung ist in Skandale verwickelt. Kaum eines ihrer derzeitigen Projekte ist bei den Ungarinnen und Ungarn beliebt. Ihre Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen ist aber sehr populär. Mit dem Thema hat sich die Regierung letztes Jahr wieder an die Spitze der Wählerumfragen zurückgearbeitet. Darum hält sie es jetzt am Kochen, unter anderem auch mit der Abstimmung über die EU-Flüchtlingsquoten.
Wie ist die Flüchtlingssituation in Ungarn?
Die derzeitige Situation lässt sich kaum mehr vergleichen mit dem Chaos und dem Ansturm im letzten Jahr. Die ungarische Regierung rühmt sich, sie habe das Land mit dem Zaun erfolgreich abgeschottet. Das stimmt aber auch nicht. An manchen Tagen sollen auch dieses Jahr wieder bis zu 1000 Leute beim Versuch einzureisen von Grenzwächtern aufgegriffen worden sein. Neuerdings geht der Grenzschutz aber offenbar sehr brutal und auch illegal vor. Flüchtlinge berichten zum Beispiel, sie seien von ungarischen Grenzwächtern geprügelt worden, Hunde seien auf sie gehetzt und sie seien von ihnen gebissen worden. Einige hätten sich bei der Festnahme Knochenbrüche zugezogen.
Neuerdings geht der Grenzschutz offenbar sehr brutal und auch illegal vor.
Viele erzählen auch, sie seien aus dem Landesinneren wieder nach Serbien zurückgeschafft worden. Das wäre illegal, denn so hätten sie keinen Zugang zu einem Asylverfahren bekommen. Die ungarische Regierung bestreitet all diese Vorwürfe. Sie betont, dass die aufgegriffenen und zurückgeschickten Leute vor allem illegale Grenzübertreter seien. Klar ist, dass alle Flüchtlinge, die nach Ungarn einzureisen versuchen, nicht dort bleiben wollen. Ungarn ist und bleibt ein Transitland für die Flüchtlinge.
Wird Regierung mit der Abstimmung Erfolg haben?
Sie wird sie ganz sicher gewinnen. Da besteht kein Zweifel, nur schon weil die Gegner der Abstimmung zum Boykott aufrufen. Die einzige offene Frage ist, ob es der Regierung gelingt, 50 Prozent der Wähler zu mobilisieren. Nur dann wäre die Abstimmung gültig.
Was würde ein Nein aus Ungarn für die EU bedeuten?
Der Beschluss, Flüchtlingsquoten einzuführen, ist von den EU-Ministern aller Mitgliedsstaaten mit klarer Mehrheit gefällt worden. Ob er rechtens ist, muss der Europäische Gerichtshof derzeit prüfen, weil die Slowakei und Ungarn Klage dagegen eingereicht haben. Wenn der Beschluss rechtens ist, muss auch Ungarn sich daran halten. Eine Volksabstimmung ändert daran nichts.
Ein Nein zu den Flüchtlingsquoten in Ungarn würde die Debatte über die Frage anheizen, ob die Politik der EU im Vergleich zur öffentlichen Meinung nicht zu flüchtlingsfreundlich ist.
Aber der ungarische Premierminister Viktor Orban stellt sich jetzt schon als Vertreter und Kämpfer des von einer Brüsseler Elite gegängelten europäischen Volks dar. Dieses Spiel könnte er mit einem Abstimmungserfolg dann noch besser spielen. Es würde also die Debatte über die Frage anheizen, ob die Politik der EU im Vergleich zur öffentlichen Meinung nicht zu flüchtlingsfreundlich ist. Würde Orban dafür unter den anderen EU-Ländern Verbündete oder gar Nachahmer finden, dann könnte das den Ruf und den Handlungsspielraum der EU weiter schädigen.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.