Seine Eltern waren sowjetische Dissidenten und emigrierten 1978 nach London. Peter Pomerantsev selber wollte mithelfen, ein demokratisches Russland aufzubauen. Doch was er 2001 in Moskau antraf, war keine Demokratie. Sondern eine Politik ohne Substanz, inszeniert als Theater, vom Kreml kontrolliert und orchestriert.
«Fakten sind egal»
«Die PR-Strategen des Kremls haben die Aufgabe, alles in ein permanentes Spektakel zu verwandeln», sagt Pomerantsev. «Dies mit dem Ziel, die Bevölkerung zu unterhalten und emotional bei der Stange zu halten.»
Das gelte insbesondere für die Nachrichten: Sie müssten unterhalten und starke Gefühle hervorrufen. Gerade auch mit Falschmeldungen wie der Geschichte von einem Kind, das angeblich in der Ukraine gekreuzigt wurde.
«Dabei sind die Nachrichten oft sehr widersprüchlich. Fakten sind den Produzenten egal, alles was zählt, sind die Emotionen. Und diese Gefühle bringen die Leute dazu, dauernd Fernsehen zu schauen, trotz der Widersprüche.»
Und Lügen schadeten nicht, Lügen würden sogar zelebriert, sagt Pomerantsev. «Es war für alle offensichtlich, dass Präsident Putin im Zusammenhang mit der Krim gelogen hat.» Aber das Signal sei eines der Stärke gewesen: Schaut her, ich bin so selbstsicher, dass ich lügen kann. So wichtig bin ich.
Unablässige Desinformation
Pomerantsev spricht im Ukrainekonflikt nicht nur von einem Informationskrieg, sondern auch von einem Krieg gegen die Information, der auch das westliche Publikum betreffe.
Die russischen Medien verbreiteten praktisch unablässig Desinformationen. Das Ziel sei, so grosse Verwirrung zu stiften, dass die Leute es aufgäben, nach der Wahrheit zu suchen. Das beste Beispiel dafür sei der Abschuss des Passagierflugzeugs MH17. Die russischen Medien, ihre ausländischen Ableger und, in ihrem Schlepptau, die sogenannten Trolle hätten eine Theorie nach der anderen in die Welt gesetzt – alles Nebelpetarden.
«Fauler Journalismus»
Dass diese Strategie Erfolg hat, liegt für Pomerantsev auch am Westen. Genauer: Am westlichen Journalismus. «Der Journalismus im Westen ist völlig verarmt, wir sind faul geworden», sagt Pomerantsev. Die russische Strategie funktioniere, weil der westliche Qualitätsjournalismus tot sei.
«Der Journalismus beschränkt sich immer mehr darauf, beide Seiten zu zitieren, mit der vollkommen falschen Logik, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Das wäre, wie wenn Hitler die eine Seite der Sendezeit und die Juden die andere Hälfte erhalten würden, und die Wahrheit liegt dann irgendwo dazwischen. Russland nützt dieses westliche Konzept von Journalismus aus.»
Man müsse sich bewusst sein, wie eine Welt ohne echten Journalismus aussehen würde: «Es wäre eine Welt voller Desinformation, Gerüchte, Verschwörungstheorien.» «Wenn wir uns einig sind, dass wir Journalisten brauchen wie Ärzte oder Verkehrspolizisten, dann müssen wir den Journalismus neu denken. Und zum Beispiel grosse journalistische NGOs gründen, die sich der Recherche und des Kampfs gegen Desinformation annehmen. Und die wenn nötig mit öffentlichen Geldern unterstützt werden. Aber das ist eine riesige Aufgabe.»
Eine Aufgabe aber, die laut Pomerantsev unbedingt angepackt werden muss. Sonst wird Realität, was er in seinem Buchtitel vorweggenommen hat: «Nichts ist wahr, und alles ist möglich.