Irgendetwas stimmt da nicht: Beim Landeanflug auf Minsk heisst die Stewardess die Fluggäste auch auf weissrussisch willkommen. Die Ortstafeln, die Öffnungszeiten am zentralen Kaufhaus in Minsk, Lebensmittel, Speisekarten – alles auf weissrussisch statt russisch angeschrieben. Dass sogar Radio-Moderatorinnen weissrussisch sprechen, ist kaum zu glauben. Denn die weissrussische Sprache führt seit Jahrzehnten ein Schattendasein: Schon der Zar hat sie unterdrückt, zu Sowjetzeiten dann Stalin.
Russisch und Weissrussisch gelten zwar seit den 90er Jahren beide als Amtssprachen, das steht so in der Verfassung. Aber in seinen 20 Jahren als autoritär regierender Präsident habe Alexander Lukaschenko das Weissrussische faktisch verboten, sagt Sprachforscherin Nina Sydhlouskaja vom weissrussischen Schriftstellerverband.
Weissrussische Bücher waren tabu
Die weissrussische Kultur sei vom Lukaschenko-Regime nie gefördert worden, erklärt Sydhlouskaja. «Ganz nach sowjetischer Sitte hat er bloss die russischsprachigen Segmente in der Kultur unterstützt.» Werke in weissrussischer Sprache waren in Schulen nicht mehr Pflichtstoff, staatliche Druckereien weigerten sich, weissrussische Bücher zu drucken. Und: «Jahrelang erhielten Intellektuelle, die weissrussisch sprachen, keinen Job», sagt die Sprachforscherin.
Aus dem gesellschaftlichen Leben wurde die weissrussische Sprache fast vollständig verdrängt. Und nicht nur das: Lukaschenko – ein Verfechter der Sowjetideologie – hat nie einen Hehl aus seiner Verachtung für alles Nationale, Freiheitliche und Demokratische gemacht. «Das Lukaschenko-Regime hat die weissrussischen Kulturschaffenden automatisch als Oppositionelle definiert», weiss Sydhlouskaja.
Der Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim haben Ängste vor einem Ukraine-Szenario geweckt.
Umso erstaunlicher, dass heute in Minsk das Weissrussische wieder auf dem Vormarsch ist. Artur Klinau, Publizist und Herausgeber der einzigen unabhängigen Kulturzeitschrift im Land, stellt erfreut fest, dass das Weissrussische sogar salonfähig geworden ist. Der Grund: «Die Geschehnisse in der Ukraine haben der Identitätsfindung hier in Weissrussland einen mächtigen Schub verliehen.» Auch in Weissrussland hätten der Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim Ängste vor einem Ukraine-Szenario geweckt.
Die Bevölkerung spürt die Wirtschaftskrise
Und offensichtlich nicht nur bei der Bevölkerung: Das Lukaschenko-Regime, bekannt für sein Lavieren zwischen Russland und Europa, grenzt sich in letzter Zeit oft von Russland ab. Im Falle eines Angriffs werde er keinen Millimeter seines Landes preisgeben, sagte Lukaschenko kürzlich.
Auffallend dabei: Immer häufiger greift Lukaschenko in seinen Reden auf das Weissrussische zurück – also die Sprache der politischen Feinde, die er bislang verfolgt hat. Das kommt gut an, selbst bei Lukaschenkos Gegnern. Und nützt dem Päsidenten bei den Wahlen vom kommenden Sonntag: Denn Weissrussland steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, welche die Bevölkerung jetzt zu spüren bekommt. Da kann der Präsident zusätzliche Popularität gebrauchen.
Die offene Frage bleibt: Wie viel Unabhängigkeit ist möglich?
Doch weiss man auch in Minsk, dass in der Ukraine gerade der Sprachenstreit wesentlich zum Zerwürfnis mit Russland beigetragen hat. Der Publizist Artur Klinau glaubt zwar nicht, dass ein Sprachenstreit auch hier zur Spaltung des Landes führen werde.
Aber Lukaschenko müsse aufpassen, was er tut. Der kleinste Schritt in Richtung nationale Identität könne verheerende Folgen haben: «Wenn zum Beispiel in Schulen Fächer wie Erdkunde nur noch weissrussisch unterrichtet werden, würde man dies in Russland als Faschismus interpretieren.»
Und so ist völlig offen, wie lange die Renaissance der weissrussischen Sprache anhält. Die einen glauben Lukaschenkos Beteuerungen für ein souveränes, nationales Weissrussland. Andere sind überzeugt: Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland schliesst seine Souveränität praktisch aus.