Ebenso wichtig wie die Anpassung und Verschärfung der Antiterrorgesetze ist Jagland, dass nun unter dem Eindruck der «Charlie-Hebdo»-Attacke nicht Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geopfert werden.
Fredy Gsteiger sprach mit Thorbjörn Jagland über die Notwendigkeit und die Risiken des Antiterrorkampfes.
SRF: Herr Jagland, Sie liefen an der historischen Pariser Grossdemonstration gegen den Terrorismus und für die Meinungsäusserungsfreiheit in der vordersten Reihe mit. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Jagland: Ich musste an die grosse Kundgebung 2011 in meiner Heimat Norwegen denken – nach dem Massenmord, den der rechtsextreme Anders Breivik an Kindern verübte. Beide Male war ein sichtbarer Schulterschluss enorm wichtig. Als Signal dafür, dass sich damals die Norweger und jetzt die Franzosen für die freiheitlichen Werte und diesmal besonders für das Recht auf freie Rede mobilisieren lassen.
Wie weit reicht denn die Meinungsäusserungsfreiheit – umfasst sie auch das Recht, religiöse Gefühle zu verletzen?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Rahmen mit verbindlichen Urteilen abgesteckt. Daraus geht hervor: Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein zentraler Wert in Europa. Es gibt bloss drei Grenzen: Offen rassistische Äusserungen sind verboten, das Leugnen des Holocaust sowie die Aufhetzung zu Rassenhass und Gewalt. Für mich ist klar: Man darf natürlich auch Religionen und Religionsführer kritisieren und karikieren. Die Zeichner von «Charlie Hebdo» haben die Grenzen respektiert. Anders sieht es aus, wenn etwa politische Gruppierungen Karikaturen missbrauchen, um zu Hass und Gewalt anzustacheln.
Wie gross schätzen Sie denn die Gefahr ein, dass wegen der drohenden Lebensgefahr für Satiriker, nun Selbstzensur um sich greift?
Wir müssen uns der Gefahr bewusst sein, aber ich halte sie nicht für allzu gross. Hingegen müssen wir alle, Politiker, Journalisten, Karikaturisten, daran denken: Nicht alles, was wir tun dürfen, sollen wir auch in jedem Fall tun. Wir müssen uns stets fragen, was wir damit auslösen und wie andere Menschen darauf reagieren. Das gehört zu unserer Verantwortung.
Unmittelbar nach den Attacken in Paris sprachen Sie von einer Radikalisierung der europäischen Gesellschaft. Müssen wir einfach damit leben?
Die Radikalisierung ist eine Tatsache. Sie nimmt sogar noch zu. Aber wir können etwas dagegen tun. Der Europarat bereitet gerade Richtlinien für Schulen vor. Wir müssen uns viel stärker als bisher bemühen, Jugendliche zu demokratischen Staatsbürgern zu formen, ihnen den Dialog zwischen Kulturen zu vermitteln. Wir müssen auf junge Leute zugehen, wo immer sie sind, sie einbinden in unsere freiheitliche Werteordnung.
Heute legten Sie dem Ministerrat des Europarates einen Aktionsplan vor. Es geht darin auch um die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen für terroristische Taten, um Rekrutierung, um Ausbildung. Es geht um Jihadisten, die ins Ausland reisen, um zu töten und dann in ihre Heimat zurückkehren und dort möglicherweise neue Gewalttaten verüben. Genügen die gültigen Konventionen und Vorgaben nicht mehr?
Wir müssen die nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA verabschiedete Anti-Terrorkonvention des Europarates anpassen und erweitern wegen des neuen Phänomens der ausländischen Terrorkämpfer. Der Europarat muss für alle 47 Mitgliedländer den rechtlichen Rahmen zur Terrorbekämpfung vorgeben. Beim Antiterrorkampf müssen wir grenzüberschreitend kooperieren. Also brauchen wir europaweite Standards. Und die kann nur der Europarat schaffen.
Nach den Terroranschlägen auf New York und Washington gingen die USA in Sachen Antiterrormassnahmen sehr weit: Guantanamo, Überwachung, Folter. Besteht das Risiko, dass Europa nun einen ähnlichen Kurs einschlägt?
Die Amerikaner haben nach 9/11 wohl zu vieles zugelassen im Namen des Antiterrorkampfes. Europa ist anders, in Sicherheitsfragen wohl etwas weicher. Unsere Standards und Werte sind nicht immer dieselben wie jene der USA. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden hier höher gewichtet. Ich denke, das gilt weiterhin.
Doch wie weit muss und darf man gehen im Antiterrorkampf?
Wir müssen uns gegen die neue Form faschistischer Attacken wie jene auf «Charlie Hebdo» verteidigen. Aber wir müssen die Balance finden zwischen Sicherheitsmassnahmen und Menschenrechten. Wir können nicht die freiheitliche Demokratie retten, indem wir sie selber aushöhlen. Das heisst: Wir können nicht jene, die unsere Demokratie zerstören wollen, mit Mitteln bekämpfen, die selber die Prinzipien des Rechtsstaates verletzen. Das Risiko besteht, dass Regierungen unter dem Eindruck der grausamen Taten zu weit gehen.
Bloss: Wie weit ist zu weit: Ist der Austausch von Flugdaten zu akzeptieren, mehr Überwachung, das Abhören von Telefonen? Braucht es Isolationshaft für Jihadisten?
Wir müssen uns bei jedem Antiterrorgesetz nüchtern fragen: Was sind die Vor-, was die Nachteile? Etwa bei der Isolationshaft: Wir wissen, dass viele Terroristen in Gefängnissen rekrutiert werden. Wir wissen aber auch, dass Isolation und Abnabelung von jeglichem Dialog bei vielen Menschen eher radikalisierend wirkt. Dass sie nach ihrer Haftentlassung in Parallelgesellschaften flüchten. Vielleicht wäre es besser, statt auf Einzelhaft zu setzen, das Gefängnispersonal besser auszubilden, die Wärter für die Gefahr der Bildung von Terrornetzwerken zu sensibilisieren. Kurz: Nach Anschlägen beginnt unter Politikern jeweils ein Wettbewerb um neue, scharfe Antiterrorgesetze. Doch das führt selten zum Ziel.