Der baltische Staat Estland hat in Sachen Digitalisierung die Nase weit vorne. Die Bürger wählen per Internet, die Steuern werden online eingetrieben, und auch Krankenakten werden digital bewirtschaftet. Gleichzeitig macht diese Pionierarbeit aus dem Land ein interessantes Ziel für Cyber-Angriffe. Die estnische Regierung versucht nun, sich davor zu schützen.
Bruno Kaufmann, wie geht die estnische Regierung dabei vor?
Bruno Kaufmann, Nordeuropa-Korrespondent: Sie hat eine dreifache Strategie. Einerseits baut sie auf die sogenannte Wolke, also auf digitale Back-up Clouds im In- und Ausland, die ständig die staatlichen Webseiten spiegeln und diese im Notfall wieder herstellen können. Zum zweiten hat sie ein interessantes Modell, das der Web Embassies. Das sind die Botschaften Estlands im Ausland, die ja estnisches Territorium sind. Auch dort stehen spezielle Server, um ständig die staatlichen Seiten zu sichern. Und zum dritten beginnt man jetzt damit, eine Art Internet-Föderation innerhalb des Landes zu schaffen. Das heisst, die einzelnen Bürger können Teile ihres Speicherplatzes dem Staat zur Verfügung stellen, um damit Teile der Informationen zu sichern. Zusammen gibt das dann eine weitere Möglichkeit der Wiederherstellung.
Bei all dem geht es um die Sicherheit – lässt sich abschätzen, wie real die Gefahr eines Cyber-Angriffs tatsächlich ist?
Estland ist kleines Land, das – anders etwa als die USA – in der Weltpolitik keine grosse Rolle spielt. Deshalb hat man schon ein wenig das Gefühl, man könne etwas entwickeln, ohne ständig in der Angriffslinie zu stehen. Gleichzeitig liegt Estland im Nordosten der EU, nahe an Russland. Vor einigen Jahren wurde das Land im Zuge eines Konflikts mit Russland zum Ziel einer Cyber-Attacke. Ob diese Angriffe aus dem Land heraus oder aus Russland kamen, ist bis heute nicht klar. Doch waren einige Tage lang alle Webseiten Estlands nicht mehr verfügbar; auch das Bankensystem funktionierte nicht mehr. Das war ein grosser Schock. Aus dieser Erfahrung hat das Land seine Lehren gezogen und das Sicherheitsnetz aufgebaut.
Dann fühlt man sich in Estland vor allem durch Russland bedroht?
«Bedroht» ist ein schwieriges Wort. Seit der Unabhängigkeit Estlands vor 25 Jahren gibt es Spannungen, weil auch in Estland selber rund ein Viertel der Bürger russischstämmig ist. Diese Spannungen werden im Land selber, aber auch von Russland her, immer wieder instrumentalisiert. Deshalb ist klar, dass der offene Internetstaat in dieser Beziehung für Fragezeichen sorgt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Nato ihr Cyber Defense Center, also das wichtigste Internet-Anti-Angriffszentrum in Tallinn, Estlands Hauptstadt, aufgebaut hat.
Wie ist die Digitalisierung im Alltag in Estland zu spüren und zu sehen?
Sie ist viel durchgreifendender als an anderen Orten. Wir sind uns in modernen Staaten gewohnt, dass sehr vieles übers Internet läuft, von der Steuererklärung bis hin zur politischen Beteiligung. In Estland ist man da schon früher radikal umgestiegen. Seit 2005 kann man übers Internet wählen, etwa seit der gleichen Zeit laufen alle öffentlichen Dienstleistungen übers Internet. Man ist davon weggekommen, Dokumente aus Papier unterschreiben zu müssen. Estland war das erste Land in Europa, das die digitale Unterschrift eingeführt hat. In vielen Bereichen war das Land Pionier. Deshalb ist es auch für andere Länder spannend, zu schauen, wie das hier funktioniert.