Schweden hält viel auf seine humanitäre Tradition. Trotz seiner geographischen Abgeschiedenheit will es keine Insel der Seligen in der Flüchtlingskrise sein. Kein anderes Land nimmt pro Kopf mehr Flüchtlinge auf. Bis Ende Jahr sollen es 190‘000 sein.
Lange bevor Deutschland und Angela Merkel ihr Herz für Flüchtlinge entdeckten, gewährte Schweden allen einreisenden Syrern Asyl. Man wäre geneigt zu sagen: Hoch im Norden hat man die Nächstenliebe zur Staatsräson erhoben.
Die Gewalt bricht sich Bahn
Doch nun werden Parallelen zu Deutschland ruchbar, die wenig mit der «Willkommenskultur» zu tun haben. Zuletzt kam es zu Brandanschlägen auf Asylunterkünfte, gleich vier Einrichtungen gingen innerhalb von einer Woche in Flammen auf.
Auch der Amoklauf eines jungen Rechtsextremisten richtete sich gezielt gegen Migranten. Die Tat eines offenbar isolierten Einzeltäters taugt freilich kaum als Symptom eines latenten Rassismus. Doch die Attacke traf die aufgeklärt-tolerante Gesellschaft ins Mark. Das nationale Selbstverständnis erhält erste Risse.
Die Grenzen der Solidarität?
Vom moralischen Wintereinbruch am rechten Rand profitieren die Schwedendemokraten. Waren es bei den Parlamentswahlen 2010 lediglich 5 Prozent, würde heute laut Umfragen jeder fünfte Schwede die Rechtspopulisten wählen. Auch wenn die Partei immer noch nicht salonfähig sei, wie SRF-Nordeuropa-Korrespondent Bruno Kaufmann sagt, steht fest: Es dringen neue Töne in die Flüchtlingsdebatte.
So auch vom Regierungschef der rot-grünen Koalition, Stefan Löfven: «Wir sind an der Grenze unserer Kapazität. Schweden nimmt nicht einfach immer weiter Flüchtlinge auf, solange das andere Länder nicht auch tun.» Und Schweden handelt: Künftig sollen Kriegsflüchtlinge aus Syrien maximal noch drei Jahre lang im Land bleiben dürfen. Neben restriktiven Massnahmen wird allerdings auch einer schnelleren und besseren Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge gearbeitet.
Neue Töne in der Politik
Löfvens Worte sind Ausdruck eines allmählichen Wandels in der Flüchtlingsfrage: Die Stimmung in der Bevölkerung droht zu kippen, «die Lage ist in menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht sehr angespannt», sagt Korrespondent Kaufmann. Zudem sei die Minderheitsregierung so schwach wie kaum eine vor ihr. «Und das ist das letzte, was Schweden im Moment brauchen kann.»
Schliesslich gebe es zunehmende Spannungen zwischen Stadt und Land – und die Flüchtlingskrise wird zum Katalysator für die gesellschaftliche Polarisierung. Unterkünfte in den Agglomeration seien notorisch überfüllt; auf dem Land kämen Flüchtlinge in Gegenden, wo es kaum Menschen gäbe: «Auch das schafft Spannungen», so Kaufmann.
Rettungseinsatz am Wohlfahrtsstaat
Das neue, rigidere Regime in der Flüchtlingspolitik sei auch ein Brückenschlag zur bürgerlichen Opposition. «Und man möchte zeigen, dass man den Ernst der Lage verstanden hat.» Die rot-grüne Regierung sei in sich gespalten, doch es gelte den Wohlfahrtsstaat zu retten und die politische Stabilität im Land zu wahren.
Die lange übermächtige Sozialdemokratie sieht sich zu einer restriktiveren Flüchtlingspolitik gezwungen, einem regelrechten «Tabubruch», wie Kaufmann sagt. «Letztlich will man den weltoffenen Sonderfall Schweden in eine neue Zeit retten.»
Die Willkommenskultur lebt
Abgesänge auf die schwedische Willkommenskultur hält Kaufmann indes für alarmistisch. Von aussen betrachtet könne zwar tatsächlich ein derartiger Eindruck entstehen, so der Schweden-Kenner. «Aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sieht sich der schwedischen Identität als humanistische, moralische Weltmacht verpflichtet.»
Und letztlich gehe es hoch im Norden auch darum, gleichsam ein europapolitisches Langzeitprojekt zur Vollendung zu bringen: «Man hatte (in der Flüchtlingsfrage) immer schon das Gefühl, dass man wenig von Brüssel erwarten, es aber umgekehrt beeinflussen kann: Man will Europa schwedischer machen.»