SRF News: Dass Ungarn die Grenze zu Serbien vollständig schliesst, erhöht den Druck auf Serbien. Wie reagiert man in Belgrad darauf?
Walter Müller: Die Reaktionen in Belgrad sind sehr harsch. Serbiens Regierung hat absolut kein Verständnis für die Grenzschliessung und betont immer wieder, dass Zäune und Mauern gegen Flüchtlinge keine Lösung seien. Vor allem in den serbischen Medien wird Ungarns Regierungschef Viktor Orbán oft mit Adolf Hitler verglichen. Auch die Belgraderinnen und Belgrader nehmen absolut kein Blatt vor den Mund: Wie Ungarn mit den Flüchtlingen umgehe, sei faschistisch, sagen sie.
Zeigt die Schliessung der Grenze zu Ungarn bereits erste Folgen auf serbischer Seite?
Heute Morgen sehe ich noch keine direkten Folgen. Die Befürchtungen sind aber gross, dass sich die Flüchtlinge in Serbien stauen, wenn sie nicht mehr nach Ungarn hineinkönnen oder sogar nach Serbien zurückgeschickt werden. Die Flüchtlinge werden sicher länger in Serbien bleiben müssen, wenn das so weitergeht. Deshalb baut Serbien entlang der Grenze vier weitere provisorische Aufnahmezentren. Serbien fühle sich jedoch nicht verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, die von Ungarn zurückgewiesen werden, sagt das Innenministerium. Und Serbien sei darauf schlicht nicht vorbereitet. Das Land hat viel zu wenig Unterkünfte für eine solch langandauernde Situation. Und es hat keine Strategie. Serbien sieht sich als Transitland. Zudem fürchten jetzt alle den Winter.
Sie waren am Abend noch am Busbahnhof in Belgrad. Wie ist dort die Situation?
Gestern waren weit weniger Flüchtlinge beim Busbahnhof also noch vor einer Woche: etwa 400 bis 500 anstatt gegen 2000. Denn nun hetzen alle direkt von Südserbien in den Norden an die ungarische Grenze. Im Park beim Busbahnhof ist die Hygiene-Situation immer noch schlimm: Dreck und Schlamm – vor allem, wenn es regnet. Aber vieles ist besser geworden. Ich habe gesehen, wie junge Leute Suppe ausschenken, Private verteilen Essenspakete. Freiwillige Helfer von «Save the Children» beschäftigen Kinder mit Spielen. Ein Sanitätsposten ist in Betrieb. Angestellte des Stadtbauamtes reinigen nun den überfüllten Park laufend, so gut es eben geht. Was besonders auffällig ist: Es gibt riesige Schilder auf Englisch und Arabisch, die den Weg zu den Ticketschaltern für die Busse in den Norden weisen, an die Grenze zu Ungarn.
Heute sieht man noch nicht, welchen Weg die Flüchtlingskaravane nehmen wird.
Was sagen die Flüchtlinge dazu, dass die Grenze zu Serbien geschlossen ist? Wohin gehen sie nun?
Das ist die grosse Ungewissheit. Alle haben von der Grenzschliessung gehört. Sie sehen keine Alternative. Die Flüchtlinge sind gestresst und verwirrt. Ich habe gesehen, wie sie widersprüchliche Nachrichten auf ihren Smartphones austauschen. Es wird gerätselt, ob Ungarn überhaupt noch Flüchtlinge über die Grenze lässt. Ich habe mit einer Gruppe aus Syrien gesprochen, die ebenfalls sehr unschlüssig war. Die Männer meinten zwar, sie würden mit dem Bus nun erst einmal dahinfahren und dann weiterschauen. Und wenn sie nicht nach Ungarn hineinkommen, würden sie wohl via Kroatien ausweichen wollen. Aber heute sieht man noch nicht, welchen Weg die Flüchtlingskaravane nehmen wird.
Das Gespräch führte Philippe Chappuis.