Am Moskauer Stadtrand, in seiner bescheidenen Wohnung, sitzt Sergej Kowaljow fast ein wenig schüchtern hinter seinem Pult. Doch die Papierstapel, Briefe, Manuskripte und Bücher, die sich links und rechts vor ihm auftürmen, machen deutlich: Dem ehemaligen Dissident geht die Arbeit trotz seines hohen Alters nicht aus.
Frustriert wirkt der 85-Jährige nicht, wenn man ihn über den Kampf zu Zeiten des Sowjetregimes befragt. Oder über sein idealistisch geprägtes Engagement, das ihn damals ins Straflager gebracht hatte, zusammen mit Mitstreitern wie Andrej Sacharow. «Ich und meine Kollegen haben vergeblich darauf gehofft, dass sich die Denk- und Handlungsweise der damaligen Machthaber ändern könnten», sagt er. «Natürlich – wir hatten alle gedacht, dass unsere Bemühungen irgendwann mal Früchte tragen.»
Enttäuschte Hoffnungen
Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Kowaljow zuversichtlich. Er liess sich als Abgeordneter der liberalen Jabloko-Partei ins russische Parlament wählen, wirkte später im Kabinett von Präsident Boris Jelzin als Vorsitzender des Menschenrechts-Komitees. Unter Jelzin, so glaubte Kowaljow anfänglich noch, werde sich vieles zum Guten wenden. Mit dem ersten Tschetschenien-Krieg aber wandte sich Kowaljow dann enttäuscht vom ersten russischen Präsidenten ab.
Und jetzt, seit 2012, seit der dritten Wahl Vladimir Putins ins Präsidentenamt, kritisiert Kowaljow immer wieder das wachsende Demokratie-Defizit und das – aus seiner Sicht – aggressive Vorgehen des russischen Regimes. Mit seinem Eingreifen in der Ukraine gehe es dem Kreml doch einzig darum, das Nachbarland davon abzuhalten, sich Richtung Europa zu orientieren, sagt er.
Doch während Kowaljow bei der russischen Intelligenzia auf grössten Respekt stösst, wird seine Stimme im Kreml überhört. Das Verhältnis zwischen russischen Menschenrechtlern einerseits und den Politikern im Kreml andrerseits sei eben, so Kowaljow, aus ganz grundsätzlichen Gründen nicht einfach. Weil Politiker ganz anders als sie – die Idealisten – funktionierten. So sei es ihm schon anfangs der 90er-Jahre misslungen, Jelzins Tschetschenien-Politik in friedfertigem Sinne zu beeinflussen.
Andere Weltanschauung als die Politiker
Er habe seine Stimme wohl zu leise und auf zu unverständliche Art erhoben. «Das war mein grösster Fehler», meint er rückblickend. «Denn all diese Partei-Politiker wie Jelzin konnten unsere Anliegen in ihrer Tiefe nicht nachvollziehen.» Jelzin habe zwar auch den Wunsch gehabt, Gutes zu bewirken. «Wir waren aber verschieden geprägt worden: Jelzins Weltanschauung war jene des ersten Sekretärs des Gebietskomitees von Sverdlowsk. Meine war jene eines politischen Gefangenen.»
Man stelle sich vor, die Bundesrepublik Deutschland würde heute von einem Bundeskanzler regiert, der einst Oberstleutnant der DDR-Staatssicherheit war.
Menschenrechtler, so Kowaljow, orientierten sich strikte an Idealen, Prinzipien. Für Politiker stehe mehr der eigene Machterhalt, das politisch Machbare im Vordergrund. Politiker seien – auch wenn sie dabei gegen wichtigste Grundsätze verstössen – zu unvertretbaren Schritten bereit.
Als Beispiel führt er an, wie Jelzin damals seine Nachfolge geregelt hat. Jelzin habe mit Putin einen Geheimdienst-Oberstleutnant zu seinem Nachfolger auserkoren. Kowaljow schüttelt angewidert den Kopf.
Man solle sich doch mal vorstellen, die Bundesrepublik Deutschland würde heute von einem Bundeskanzler regiert, der einst Oberstleutnant der DDR-Staatssicherheit gewesen sei. Das schrieb Kowaljow vor ein paar Wochen in einem Aufruf, den er selbst als «Offenen Brief an den Westen» bezeichnet.
Putin ist in einer Sackgasse. Er ist gezwungen, seine bisherige Politik fortzusetzen.
Mit seiner jüngsten Politik habe Putin nicht nur sein Land in eine immer schwierigere Situation manövriert. Er habe auch sich selbst immer mehr in die Enge getrieben. Mit den Demokratie-Einschränkungen, der Georgienpolitik, der Krim-Annexion und dem Vorgehen in der Ost-Ukraine. «Putin ist in einer Sackgasse, er hat gar keine Wahl. Er ist gezwungen, seine bisherige Politik fortzusetzen: Mit immer neuen idiotischen Gesetzen und dem Erzeugen immer neuer Spannungen.»
Oder er müsste abtreten, sagt Kowaljow: «Aber das will er um keinen Preis!» Den Argumenten sogenannter Putin-Versteher, wonach der Westen in den letzten Jahren der Empfindlichkeit Putins zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, kann Kowaljow nichts abgewinnen.
Im Gegenteil: Nach der Krim-Annexion und dem Aufflammen des Kriegsgeschehens in der Ost-Ukraine, so Kowaljow, hätte der Westen sehr viel rigider, sehr viel härter agieren und reagieren sollen.
Der Westen schimpft und fragt sich, was man denn überhaupt noch tun könnte.
«Man hätte auf Putin sehr viel früher und anders reagieren sollen», ist er überzeugt. Maximalen Gegendruck hätte es gebraucht. «Man hätte nicht von einem Neubeginn der Beziehungen faseln sollen. Jetzt gibt sich der Westen ohnmächtig, macht mit Sanktiönchen ein bisschen Druck, schimpft mit Worten und fragt sich, was man denn überhaupt noch tun könnte.»
Kowaljow, der renommierte Menschenrechtler, spart wie alle aus seiner Riege nicht mit äusserst dezidierter Kritik. So kennt man ihn hier in Russland, so wird er – auch dank seiner vielen Verdienste – auch breit akzeptiert. Er selbst sieht sich heute immer mehr auch als politischer Philosoph. Und er ist der Ansicht, dass die Welt letztlich weniger von der Machtpolitik geprägt sein sollte als von grundsätzlichen Ideen: von der Gewaltenteilung, Fairness, Menschenrechten, einer möglichst breit wirksamen Demokratie und zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung.