In Würzburg hat wieder ein Einzeltäter im Namen der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) zugeschlagen. Offenbar wieder einer, der sich schnell und unauffällig radikalisiert hat und vor keiner Brutalität zurückschreckte, als er in Bayern am Montagabend Passagiere in einem Regionalzug angegriffen hat.
«Der Albtraum hat erst begonnen.» Das schrieb kürzlich das IS-Propaganda-Magazins «Dabiq» und fordert seine «Anhänger» auf, den «Dschihad» als «heiligen Krieg» (nach Definition des IS) direkt dort zu führen, wo seine Fanatiker leben. Dabei sollen sich Einzeltäter persönlich radikalisieren, wie das in Würzburg, Nizza oder zuvor in Orlando geschehen ist.
Neue Strategie des IS mit radikalisierten Einzeltätern?
Nach einem Attentat ist jeweils die Propaganda-Abteilung des IS rasch zur Stelle und bekennt sich zur Tat eines ihrer «Soldaten». Aber gab es dabei wirklich direkte Kontakte zum Attentäter? Oder brauchen die Täter einfach einen ideologischen Überbau für ihre Anschläge? Wirkt hier gar eine neue und erfolgreiche Strategie des IS, dass Einzelne Anschläge im Namen des IS durchführen?
Markus Kaim, Forscher für Sicherheitspolitik bei der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin sieht bei den jüngsten IS-Attentaten keine grosse neue Strategie des IS, sagt er gegenüber SRF:
«Der IS ist bisher immer ein hybrider Akteur gewesen. Er ist einerseits eine Terror-Organisation und ein militärischer Akteur, der fähig ist zu gross angelegten militärischen Operationen. Andererseits ist der IS ein Quasi-Staat im Mittleren Osten. Wegen der militärischen Erfolge der internationalen Koalition gegen den IS tritt seine Funktion als Quasi-Staat und als militärischer Akteur zunehmend in den Hintergrund. Darum verlegt sich der IS wieder vermehrt auf terroristische Aktivitäten. Das sehen wir in Europa und noch viel mehr im Mittleren Osten, wo die Opferzahl durch IS-Anschläge deutlich höher liegen.»
«Inspiration» durch den IS?
Kaim unterscheidet aber zwischen Anschlägen die vom IS vorbereitet oder angeordnet worden sind und diejenigen, die vom IS nur «inspiriert» worden sind. Es deute sich eine Tendenz an, dass die jüngsten Anschläge in Europa nur inspiriert gewesen seien.
«Das Wesen der Inspiration ist aber, dass der IS als Organisation eben nicht dahinter steht, sondern das sich die Einzeltäter vom IS inspirieren lassen. Darum bin ich zurückhaltend, von einer grossangelegten Strategie des IS zu sprechen. Es ist vielmehr eine allgemeine Einladung oder Ermutigung, zur Tat zu schreiten. Aber wir stellen fest, dass das wirkt, auch wenn es keine eigentliche Strategie ist.»
Nicht jeder ein «Gotteskrieger»
Zudem müsse man aber grundsätzlich zurückhaltend sein, erklärt Kaim, «jedes Mal wenn jemand ‹Allahu Akbar› (Gott ist gross) ruft, dahinter gleich eine islamistische Verschwörung zu vermuten. Gerade auch in Nizza verschwammen die Grenzen zwischen psychischer Erkrankung und der Selbstbindung an den IS.»
Zudem könnten Sicherheitsbehörden gegen eine Selbstradikalisierung eines Attentäters wenig tun, wenn es keine Indizien gibt. Man habe es in letzter Zeit mit Attentätern zu tun gehabt, die zum Teil mit Strafverfolgungsbehörden in Konflikt geraten sind, aber wegen ganz anderer Delikte. «Beim Attentäter von Nizza hat ja wenig in Richtung islamistischer Radikalisierung gedeutet. Und damit sind die Grenzen für Massnahmen der Sicherheitsbehörden eng gesetzt», sagt Kaim.
Was kommt noch auf Europa zu?
Die Bedrohung durch den IS wird tatsächlich immer diffuser und weitreichender, erklärt Kaim: «Früher dachte man bei terroristischen Bedrohungen an staatliche Stellen oder Flugzeuge. Erst in jüngster Zeit bricht der terroristische Alltag in das Leben vieler Menschen ein. Damit verunsichern die Aktivitäten des IS das Leben von vielen Menschen in Europa mehr als in der Vergangenheit.»
Es seien ganz andere Akteure gefordert, wenn es um diese Radikalisierungsprozesse gehe. Dies könnten Geheimdienst gar nicht entdecken, und da gebe es auch gesetzliche und Kapazitäts-Grenzen, sagt Kaim:
«Diese Radikalisierungsprozesse stellen ganz andere Anforderungen etwa an Eltern, Schulen oder islamische Gemeinden oder an die laufenden Programme für die Früherkennung oder De-Radikalisierung von solchen Tendenzen. Wenn das erst die Sicherheitsbehörden realisieren, ist es meistens zu spät.»
Als Machtfaktor im Mittleren Osten sei der IS auf dem Rückzug und habe bereits grosse Teile seines Territoriums verloren, erklärt Kaim. «Darum wird der IS mehr und mehr dazu übergehen, den Krieg nach Europa zu tragen, was man auch zahlenmässig bereits sieht. Darum müssen wir uns auf weitere Anschläge unterschiedlichster Herkunft einstellen.»