Während fast 25 Jahren beherbergte Kenia mehr als eine halbe Million Menschen aus den benachbarten Ländern Somalia und Südsudan. Nun will die Regierung die Flüchtlingslager Dadaab und Kakuma schnellstmöglich schliessen. «Die Gastfreundschaft ist zu Ende», verkündete Kenias Regierungssprecher vor wenigen Tagen.
Seit dem Terroranschlag auf das vornehmste Einkaufszentrum in Nairobi vor drei Jahren sei für die kenianische Regierung klar, dass das Flüchtlingslager Dadaab unweit der somalischen Grenze ein Versteck für Kämpfer der islamistischen Terrormiliz Al-Shabaab sei – und jetzt werde aufgeräumt: «Wir starten mit der Räumung in wenigen Tagen. Das ist nicht ein Prozess, der von heute auf morgen beendet ist, aber wir beginnen jetzt.»
Inspiriert von Europas Flüchtlingspolitik?
Auf die Frage, ob sich die Regierung bewusst sei, dass sie mit diesem Schritt internationales Recht breche, entgegnete der Regierungssprecher: «Kenia ist nicht das erste Land auf der Welt, das Flüchtlinge nach Hause schickt. Auch Europa löst Lager auf und schickt Flüchtlinge in ihre Länder zurück.»
Diese Aussagen machen den britischen Menschenrechtsaktivisten und Buchautor Ben Rawlence hellhörig. Er bezweifelt die offiziellen Verlautbarungen der kenianischen Regierung: «Es gibt keinen Beweis, für terroristische Aktivitäten in diesen Flüchtlingslagern. Die Aussagen sind politisch motiviert.»
Das Bild der Flüchtlingscamps als Brutstätte des Terrorismus hinkt für Rawlence gewaltig: «Die meisten Menschen sind arm, leben auf engem Raum und können auch nicht weg. Klar suchen auch die Terroristen nach neuen Kämpfern. Sie tun das aber in Somalia – genau davor flüchten ja viele Menschen erst.»
Die kenianische Regierung wolle die Flüchtlinge dämonisieren, um von den eigenen Problemen abzulenken: «Sie hat von den europäischen Erfahrungen gelernt, dieser nicht sehr offenen Haltung Flüchtlingen gegenüber.»
In Kenia sage man sich nun: «Wenn ihr euch in Europa nicht an der Lösung beteiligt, warum sollten wir das dann tun?» Tatsächlich gehe es Kenia darum, an Gelder für ihren Militäreinsatz in Somalia zu kommen, da die internationale Gemeinschaft dort nicht selber intervenieren wolle.
Der Ausnahmezustand ist hier normal
Rawlence besuchte die Lager in Dadaab in den letzten sechs Jahren wiederholt. Zuerst als Mitarbeiter von Human Rights Watch, dann für die Recherchen für sein Buch «City of Thorns» (Stadt der Dornen). Darin beschreibt Rawlence das Leben in einem einstigen Provisorium des Elends, in dem so etwas wie Normalität eingekehrt ist: «Klar gibt es viel arme Menschen, die um ihr Leben kämpfen. Aber es gibt auch so etwas wie eine Mittelklasse; es gibt Schulen, eine funktionierende Wirtschaft und Spitäler.»
Manche Menschen führten ein Geschäft, andere hätten über das Internet Abschlüsse gemacht: «Es gibt hier die ganze Palette des sozialen Lebens, sogar Hotels oder eine Fussballliga. Es ist die drittgrösste Stadt Kenias.» Mitunter siedelten sogar Kenianer selbst nach Dadaab, um dort eine Arbeit zu finden.
Unvorstellbarer Wahnsinn
Die Pläne von Kenias Regierung, das Lager aufzulösen, hält Rawlence für «völligen Wahnsinn»: «Damit wird die Lebensgrundlage abertausender Menschen zerstört.» Auch eine Umsiedlung der Menschen sei unvorstellbar: «Das würde bedeuten, eine Stadt von der Grösse von Zürich 100 Kilometer über die Grenze eines anderen Landes zu verlegen.» Ein Wahnsinn der, wie Rawlence anfügt, für Kenia auch nicht zu bewältigen wäre, weder finanziell noch logistisch.
Der Aktivist fordert ein radikales Umdenken: «Statt das Lager zu eliminieren, sollte die kenianische Regierung versuchen, von der Dynamik der Stadt zu profitieren.» Doch Kenia wolle das Camp nicht dauerhaft akzeptieren. Alles müsse auf einer temporären Basis aufgebaut werden. Die UNO sei deswegen gezwungen, Zelte zu verteilen anstatt Häuser zu bauen: «Niemand darf offiziell arbeiten, also müssen Hilfsgüter verteilt werden.» Diese Einschränkungen würden die Entfaltung der Menschen, und damit der «Stadt der Dornen», behindern.