Der blutige Konflikt in Ägypten hat eine Ruhepause eingelegt. Die von der Regierung verordnete nächtliche Ausgangssperre beendete zunächst die Zusammenstösse. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des vom Militär entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi und Sicherheitskräften am Mittwoch sind mindestens 278 Menschen ums Leben gekommen.
Tausende Verletzte
Bei den Kämpfen um die Räumung islamistischer Protestlager in Kairo gab es viele Tote, darunter 43 Sicherheitskräfte. Auch vier Journalisten waren unter den Todesopfern.
Rund 2000 Menschen seien verletzt worden, berichteten arabische Medien am späten Mittwochabend. Die Muslimbrüder gingen von deutlich mehr Todesopfern aus, ihr Sprecher Ahmed Aref schätzte die Zahl der Toten am Abend gar auf 2600.
Die Übergangsregierung rief für einen Monat den Notstand aus und verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.
Scharfe Kritik aus USA und EU
Die USA und die Europäische Union verurteilten die Gewalt aufs Schärfste. Alle Seiten müssten an der Wiederherstellung demokratischer Strukturen durch Wahlen arbeiten und die friedliche Teilnahme aller politischen Kräfte zulassen. Dies verlangte die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton.
«Die heutigen Ereignisse sind beklagenswert und laufen dem ägyptischen Streben nach Frieden, Zusammenhalt und echter Demokratie zuwider», sagte US-Aussenminister John Kerry. Der Notstand müsse so schnell wie möglich aufgehoben werden. Der einzige Ausweg sei eine politische Lösung.
Warnung des Militärs
Die Polizei setzte am Mittwoch bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager zunächst Tränengas ein. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los, später wurde von beiden Seiten scharf geschossen.
Die Gewalt griff rasch auf andere Teile des Landes über. Daraufhin rief Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand aus, der Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung ermöglicht. In Kairo und mehreren anderen Provinzen durfte von 21 bis 6 Uhr kein Mensch die Strasse betreten.
Das Militär hatte am Abend gewarnt, es werde die Ausgangssperre «mit unnachgiebiger Härte» durchsetzen, wie die Zeitung «Al-Ahram» auf ihrer Online-Seite berichtete.
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Bild 1 von 25. Was in der Morgendämmerung mit einer Lautsprecheransage begann, wurde zu einem blutigen Tag in Ägypten: Die Polizei setzte Tränengas und scharfe Munition ein, um die Protestlager zu räumen. Auch die Mursi-Anhänger griffen zu den Waffen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 25. Kurz nach Sonnenaufgang wurden die beiden Protestlager von Polizei und Militär gestürmt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 25. Dabei wurden Zelte und Hütten mit Bulldozern geräumt. Teilweise wurden sie aber auch in Brand gesteckt – ob vom Militär oder den Protestierenden selbst, darüber gibt es widersprüchliche Aussagen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 25. Verzweifelter Versuch: Aber auch brennende Reifenbarrikaden können die Polizei nicht aufhalten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 25. Viele Verletzte und Tote sollen laut der Nachrichtenagentur AFP Schusswunden aufweisen. Frauen und Kinder sind angeblich nicht unter den Opfern. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 25. Ein Grossteil der Demonstranten brachte sich vor der Stürmung in Sicherheit. Den Verbliebenen wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie sich zuvor keinerlei Verbrechen schuldig gemacht hatten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 25. Mit improvisierten Barrikaden versuchten die Mursi-Anhänger die Polizei zu stoppen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 25. Protestierende Mursi-Anhänger haben einen Polizeiwagen angezündet und feiern ihre Aktion. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 25. Mit Steinen wehren sich die Demonstranten gegen die Polizei. Doch die gewinnt auch im zweiten Camp immer mehr die Oberhand. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 25. Es gab zahlreiche Verhaftungen – aber auch hier liegen noch keine genauen Zahlen von offizieller Seite vor. Bildquelle: Keystone.
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Bild 11 von 25. Nur ein Bruchteil der Demonstranten war bis zum Schluss in den Camps verblieben. Bis zuletzt versuchten sie die Räumung zu verhindern. Bildquelle: Keystone.
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Bild 12 von 25. Sie haben die gleiche Religion, aber heute bekämpfen sie sich bis aufs Blut. Soldaten zeigen den Koran. Bildquelle: Reuters.
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Bild 13 von 25. Nach der Räumung: Zerstörung und Chaos so weit das Auge reicht. Bildquelle: Keystone.
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Bild 14 von 25. Das Innenministerium teilte drei Stunden nach Beginn der Operation mit, die Polizei habe eines der Protestcamps im Stadtteil Giza unter Kontrolle gebracht. Rund um das zweite Camp sei die Räumung aber noch im Gange. Bildquelle: Keystone.
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Bild 15 von 25. Eine Mursi-Anhängerin protestiert verzweifelt gegen die vorrückende Armee in ihrem Lager. Bildquelle: Keystone.
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Bild 16 von 25. Er braucht Hilfe: Ein Verwundeter verlässt das Protestcamp. Bildquelle: Keystone.
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Bild 17 von 25. In den Protestlagern und auf den Strassen wurden zahlreiche Feuer entzündet. Bildquelle: Keystone.
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Bild 18 von 25. Ein Bulldozer bahnt sich seinen Weg durch das Protestlager in Giza – und macht auch vor einem Plakat des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi nicht halt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 19 von 25. Polizisten umringen eine Gruppe von Demonstranten, nachdem das kleinere Protestlager in Gizeh geräumt wurde. Bildquelle: Keystone.
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Bild 20 von 25. Ihre Wut ist gross: Demonstranten stossen ein Polizeifahrzeug von einer Brücke in Nasr-City. Bildquelle: Keystone.
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Bild 21 von 25. Das Fahrzeug stürzt in die Tiefe und landet auf dem Dach. Bildquelle: Keystone.
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Bild 22 von 25. Polizisten verstecken sich hinter ihren Schutzschildern in der Nähe der Rabea-al-Adawija-Moschee, während Steine der Mursi-Anhänger auf sie niederprasseln. Bildquelle: Reuters.
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Bild 23 von 25. Demonstranten weichen dem Tränengas der Polizei. Bildquelle: Keystone.
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Bild 24 von 25. Die Armee versucht während Stunden, den Widerstand der Mursi-Anhänger bei der Rabea-al-Adawija-Moschee zu brechen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 25 von 25. Die Folgen des heutigen Tages sind nicht abzuschätzen. Die Gewaltanwendung von Polizei und Armee rief in der ganzen Welt Kritik hervor. Bildquelle: Reuters.
Premier: Keine Alternative
Übergangs-Ministerpräsident Hasem al-Beblawi sagte am Abend im Staatsfernsehen, es habe keine Alternative zu der Räumung der Camps gegeben. Der Staat sei zum Handeln gezwungen gewesen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Nach Angaben von Innenminister Mohammed Ibrahim wurden bei den Unruhen im Land unter anderem 21 Polizeiwachen angegriffen. Bei der Räumung der Lager seien zahlreiche Waffen sichergestellt worden, darunter Maschinengewehre und Handgranaten.
Im Verlauf der Unruhen in Ägypten wurden am Mittwoch auch zahlreiche christliche Kirchen angegriffen. Nach Angaben des Blattes «Watani» attackierten Islamisten 35 koptische Kirchen oder andere Einrichtungen der Kopten. Der Sprecher der Katholischen Kirche in Ägypten, Rafic Greiche, berichtete von Übergriffen gegen 17 Gotteshäuser.
Für Freitag haben die Muslimbrüder die Fortsetzung ihrer Proteste angekündigt. Sicherheitskräfte befürchteten deshalb «eine neue Welle der Gewalt».
Zurück in die Militär-Diktatur
Der Nahost-Experte Peter Scholl-Latour fühlt sich durch die Bürgerkriegs-Bilder aus Ägypten «an die Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking» erinnert. «Was im Moment in Kairo geschieht, ist noch sehr viel schlimmer», sagte Scholl-Latour der «Passauer Neuen Presse».