Wer sich mit Recep Tayyip Erdogan anlegt, kann sich auf etwas gefasst machen. Egal ob Besetzer im Gezipark, PKK-Anhänger, Soldat oder Journalist. Der Ministerpräsident kennt keine Gnade.
Im vergangenen Jahr waren mehr als 300 Angeklagte, darunter hohe Offiziere, zu teils langen Haftstrafen verurteilt worden. Ihnen wurde vorgeworfen, in der Militärübung «Vorschlaghammer» einen Staatsstreich gegen Erdogan geplant zu haben.
Mysteriöser Geheimbund
Nun warten erneut 276 Angeklagte auf den Richterspruch. Ihnen wird vorgeworfen, mit Mordanschlägen ein Klima der Gewalt zu schaffen und so eine Militärregierung an die Macht zu bringen. Auf der Anklagebank sitzen ranghohe Militärs, wie etwa der frühere Generalstabschef Ilker Basbug, Politiker und Richter.
Fast fünf Jahre dauerte das Verfahren. Die 600 Verhandlungstage fanden in einem eigens gebauten Saal auf dem Gelände eines Gefängnisses in Silivri statt, rund 40 Kilometer westlich von Istanbul.
Die Angeklagten sollen Mitglieder eines ominösen Geheimbundes mit Namen Ergenekon sein. Ab 2003 habe diese nationalistische Gruppierung im Untergrund den Putsch geplant. Begonnen hat das Verfahren 2007. Damals entdeckten Ermittler in Istanbul ein Lager mit Handgranaten und Sprengstoff. Anfangs 2008 fanden in der ganzen Türkei verschiedene Razzien und Massenverhaftungen statt. Betroffen waren auch viele Journalisten.
Angriff auf Pressefreiheit
Die Organisation «Reporter ohne Grenzen» (ROG) vermuten hinter der Aktion einen Angriff auf die Pressefreiheit. «Die türkische Regierung sieht jede harsche Kritik an Staat, Armee und Kurdenpolitik als potenziell strafwürdig an», sagt ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske.
Die Türkei zähle zu den Ländern mit den höchsten Zahlen von Journalisten im Gefängnis. Zu den grössten Problemen gehöre, dass diese Journalisten zum Teil jahrelang in Untersuchungshaft sitzen.
Zum Ergenekon-Prozess, meint Rediske von ROG Deutschland: «Die von der Anklage geforderten Strafen sind völlig unverhältnismässig. Gegen die Journalisten wurden im Prozess keinerlei stichhaltige Vorwürfe präsentiert. Die Anschuldigungen gegen sie entbehren jeder Grundlage, und in einem Rechtsstaat müssten sie sofort auf freien Fuss kommen.»
Die Angeklagten haben im Prozess alle Vorwürfe zurückgewiesen. Eine Organisation namens Ergenekon habe nie existiert und sei nur erfunden worden, um insbesondere das Ansehen der Armee in der Bevölkerung zu zerstören.
Mit den erwarteten Urteilen im Ergenekon-Prozess wird der Rechtsstreit aber nicht beendet sein. Die Entscheidungen werden anschliessend vom Berufungsgerichtshof in Ankara überprüft.