Die türkischen Streitkräfte haben am Dienstagmorgen nach eigenen Angaben ein russisches Kampfflugzeug in der Region der türkisch-syrischen Grenze abgeschossen. «Die türkische Armee behauptet, das Flugzeug habe zuvor den türkischen Luftraum verletzt und sei innerhalb von fünf Minuten zehn Mal von zwei türkischen Kampfjetpiloten aufgefordert worden, den türkischen Luftraum zu verlassen», sagt der Journalist Thomas Seibert in Istanbul. Als nichts passiert sei, hätten sie geschossen.
Vorwurf: Geländegewinn für Assad
Die Luftangriffe, die Russland in Syrien fliegt, richten sich vor allem auch gegen die syrischen Turkmenen im Grenzgebiet. Die Türken werfen den Russen vor, vor einem möglichen Waffenstillstand in Syrien Anfang kommenden Jahres, noch schnell Geländegewinne für die syrische Regierung Assads herausholen zu wollen. Auch deswegen war die Lage in diesem Gebiet an der Grenze besonders angespannt, weiss Seibert.
Piloten konnten sich retten
Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass das abgeschossene Flugzeug brennend auf syrischen Boden niederstürzt. Die beiden Piloten konnten sich mit dem Schleudersitz und den Fallschirmen retten.
Ein Pilot soll von den syrischen Turkmenen, die mit der Türkei verbündet sind, gefangen genommen worden sein. Über den anderen weiss man noch nichts. Das türkische Staatsfernsehen meldet, dass russische Hubschrauber im Grenzgebiet unterwegs sind, um nach den Piloten zu suchen.
Unterschiedliche Versionen
Die russische Variante der Geschichte hört sich anders an. Russland hat zwar eingestanden, dass einer seiner Jets abgeschossen wurde.
«Zwei entscheidende Punkte stellt Moskau aber anders dar», sagt SRF-Russlandkorrespondent David Nauer in Moskau. Erstens hätte das Flugzeug keinen türkischen Luftraum verletzt und sei somit grundlos abgeschossen worden. Zweitens sagt Moskau, der Jet sei nicht aus der Luft, sondern vom Boden aus abgeschossen worden.
Mehrfach gewarnt
Klar ist, dass in der Vergangenheit russische Jets bei Einsätzen in Syrien mehrmals in türkischen Luftraum eingedrungen sind. «Die Türken haben Moskau mehrfach verwarnt – auch auf höchster Regierungsebene», sagt Seibert. Als daraufhin nichts geschah, sei die türkische Armee «offenbar zum Schluss gekommen, dass sie das nicht weiter hinnehmen kann und selber handeln muss».
Sollte Russland als Vergeltungsmassnahme den Erdgashahn zur Türkei zudrehen, dann wird es im kommenden Winter kalt dort.
Damit nehme die Türkei in Kauf, dass die Situation eskaliere. Es ginge auch um schwerwiegende wirtschaftliche Interessen. Einige türkische Beobachter sind besonders wegen der Abhängigkeit der Türkei von russischen Erdgaslieferungen sehr besorgt.
«Sollte Russland als Vergeltungsmassnahme diesen Hahn zudrehen, dann wird es im kommenden Winter kalt in der Türkei», sagt Seibert. Aber offenbar sei die Überzeugung gereift, dass den Russen in Syrien Einhalt geboten werden muss und dass das wichtiger sei als das Erdgas.
Russlandkorrespondent Nauer hat den Eindruck, dass Russland noch keine offizielle Linie festgelegt hat, wie es in dieser Angelegenheit verfahren will.
Einerseits heisse es von russischer Seite, man müsse abwarten, bis man genaueres wisse. Andere Stimmen forderten, dass Russland der Türkei eine Antwort geben müsse, denn der Abschuss sei ein Akt der Aggression gewesen.
Beziehung in Abwärtsspirale
Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland waren lange sehr gut. «Es gab eine Art Männerfreundschaft zwischen den Präsidenten Putin und Erdogan», sagt Nauer.
Wegen Syrien habe sich das Verhältnis in den letzten Monaten aber sehr verschlechtert. Der russische Präsident Putin kämpft weiterhin für den syrischen Machthaber, während die Türkei Assad weghaben will. Das habe in der Vergangenheit schon zu Spannungen geführt, sagt Nauer. «Die Beziehung, die sich in den letzten Monaten bereits verschlechtert hat, wird sicher noch weiter abkühlen.»