Die Meldungen aus Aleppo sind mehr als beunruhigend. Der Kampf um die Stadt im Nordwesten Syriens verschärft sich auf dramatische Art und Weise – praktisch alle Kriegsparteien sind involviert. Die UNO spricht von einer humanitären Katastrophe: Bis zu 300'000 Personen seien in der Stadt eingeschlossen.
Einer, der geblieben ist und sich als Freiwilliger um die Bewohner Aleppos kümmert, ist Ismael Al Abdullah. Der 29-jährige Syrer, der sich als «White Helmet» bezeichnet, hatte zu Beginn des Kriegs gegen Assad demonstriert. Heute gehöre er keiner Kriegspartei an. Ismael Al Abdullah lebt im Ostteil von Aleppo, der von den Rebellen kontrolliert wird.
SRF News: Wie präsentiert sich die Situation in Aleppo aktuell?
Ismael Al Abdullah: Die Situation in Aleppo ist derzeit etwas besser als vor der Belagerung. Die Menschen bekommen ein wenig humanitäre Hilfe, ein bisschen Gemüse. Es ist Essen, das vor drei Tagen in die Stadt gekommen ist. Aber es gibt keine Elektrizität, kein trinkbares Wasser. Und wir hören jeden Tag die Bomben. Die Bombardierung nimmt zu. Sie wird gar schlimmer, weil sich die Kämpfe um die Frontlinien intensivieren.
Wer wohnt noch da, wo Sie jetzt sind?
Die meisten, die hier wohnen, sind arm und benötigen Hilfe. Viele haben die Mutter, den Vater verloren. Wir haben viele Wittwen, viele Waisen. Zahlreiche arme Menschen, die sich Essen nicht leisten können. Heute hoffen sie, dass sie in einer Woche oder zwei humanitäre Hilfe erhalten. Jeder hier sucht Brot. Bis jetzt gibt es fünf Brotstücke für zehn Leute für zwei Tage. Und wir haben fast kein Trinkwasser.
Wie versorgen Sie sich? Wie stellen Sie sicher, dass Sie trotzdem noch zu Wasser kommen?
Wir haben zwar Zugang zu Wasser, aber wir können das nicht trinken. Wir können es nur mit primitiven Methoden trinkbar machen, indem wir es abkochen. Aber weil wir auch oft kein Gas und keine Elektrizität mehr haben, können wir nicht mal mehr das machen.
Helfen sich die Leute gegenseitig?
Ja, das machen sie. Ich gebe ihnen ein Beispiel: In meinem Quartier hat es eine Quelle. Wenn wir mal Elektrizität haben, stellen wir die Pumpe an. Dann holen wir alle Wasser. Oder wenn jemand unter den Trümmern liegt, dann rufen sich die Leute gegenseitig und suchen nach den Verschütteten. Das passiert in allen Quartieren von Aleppo. Die Leute helfen sich gegenseitig.
Von wem erhalten Sie die Nahrungsmittel, die in die Stadt kommen?
Von den Menschen, die ausserhalb Aleppos leben. Sie laden Essen in Lastwagen und fahren es nach Aleppo. Vorher gab es hier Mehl, ein paar Linsen. Alles Sachen, die in Lagerhäusern verstaut waren. Jetzt warten wir auf Gemüse, Reis. Lebensmittel, die von weit weg her nach Aleppo transportiert werden müssen.
Welche anderen Schwierigkeiten stellen sich Ihnen zurzeit?
Natürlich haben wir noch ganz viel andere Probleme. Zum Beispiel die verletzten Menschen, die Hilfe benötigen. Sie müssten unbedingt ausserhalb Aleppos behandelt werden, weil in Aleppo die Spitäler die medizinische Versorgung nicht mehr gewährleisten können. Wir hoffen, dass schon bald zusätzliche Ärzte in die Stadt kommen.
Wie bewegen Sie sich in der Stadt? Ist es einigermassen sicher?
Wenn dich die Bombe nicht trifft, trifft sie halt jemand anderen. Wir alle wissen das. Derzeit wird vor allem im Westen gebombt. Wir hier im Osten fühlen uns deshalb gerade etwas sicherer. Wir können uns bewegen, solange wir uns in unserem Quartier bewegen.
Derzeit ist der Kampf um Aleppo ja sehr intensiv. Sehen Sie die Möglichkeit, dass die Leute schon bald aus der Stadt flüchten können?
Sie hoffen, dass sie in ein paar Tagen die Chance dazu kriegen. Die meisten wollen raus.
Sie sind in Aleppo geblieben – wieso?
Weil ich mir gesagt habe, dass ich mein Menschenmögliches tun werde, um den Leuten zu helfen: den Kindern, den Waisen, den Witwen. Sie alle brauchen Hilfe. Die reichen Leute haben Aleppo schon längst verlassen. Wer noch immer hier ist, braucht Hilfe – und zwar von jedem.
Das Gespräch führte Thomas Zuberbühler.