«Wir haben die Wahl zwischen der Bejahung oder dem Ende Europas.» Frankreichs Präsident François Hollande wählte drastische Worte, als er vor dem EU-Parlament über die Flüchtlingskrise sprach. Zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel trat er Anfang Oktober vor die EU-Parlamentarier – zuletzt hatte es einen solchen gemeinsamen Auftritt nach dem Mauerfall gegeben.
Deutliche Worte und viel Symbolik also. Sie stehen im Gegensatz zur Politik, die Hollande in der Flüchtlingskrise betreibt – oder vielmehr nicht betreibt. Während Deutschland ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, hält sich Frankreich aus der Sache raus. Abgesehen von Hollandes Ja zu den obligatorischen Flüchtlingsquoten ist aus Paris nicht viel zu vernehmen. Das ist nicht viel für ein Land, das in der EU einen Führungsanspruch erhebt.
François Hollande hat Angst, dem Front National in die Hände zu spielen.
Nur wenige wollen nach Frankreich
Was sind die Gründe für dieses Abseitsstehen? Die offensichtliche Antwort lautet: Frankreich ist von der Flüchtlingskrise bisher nur am Rande betroffen. Die meisten Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Und selbst jene, die schon in Frankreich sind, wollen zum Teil weiterreisen, wie das Flüchtlingslager in Calais zeigt.
Doch es gibt weitere Gründe, warum sich Frankreich aus der Flüchtlingsdebatte raushält. Der wichtigste: die Angst vor dem rechtspopulistischen Front National. «Hollande fürchtet, dem Front National in die Hände zu spielen, wenn er sich in der Flüchtlingskrise zu stark involviert», sagt EU-Expertin Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Laut Umfragen hätte die Chefin des Front National, Marine Le Pen, gute Chancen, in der ersten Wahlrunde als Siegerin hervorzugehen, wenn heute Präsidenschaftswahlen wären.
Hollandes Unpopularität
Dazu kommen weitere Faktoren. «Hollandes Spielraum wird auch dadurch eingeschränkt, dass er wenig Rückhalt in der Bevölkerung hat», sagt Frank Baasner vom deutsch-französischen Institut in Ludwigsburg. Das wiederum hängt mit der schlechten wirtschaftspolitischen Bilanz der Sozialisten zusammen. So ist die Arbeitslosigkeit mit über 10 Prozent noch immer sehr hoch und das Haushaltsdefizit wird auch nächstes Jahr die Grenze von 3 Prozent überschreiten.
Frankreichs wirtschaftliche Schwäche untergrabe nicht nur Hollandes Regierung, sondern auch den Führungsanspruch der «Grande Nation» innerhalb der EU, sagt Kempin. Damit sei auch das deutsch-französische Tandem gefährdet: «Deutschland fehlt heute ein Partner auf Augenhöhe.»
In Berlin mag man sich darüber indes nicht freuen. «Deutschland ist heute sozusagen ein Hegemon wider Willen», sagt Baasner. «Denn Berlin ist es wohler, wenn es die Führungsverantwortung teilen kann.»
Weder Polen noch Grossbritannien kommen als EU-Partner für Deutschland in Frage.
Doch falls Frankreich wirtschaftlich weiter zurückfällt, verliert das Land als politischer Leader an Glaubwürdigkeit. Womit sich wiederum für Deutschland die Frage stellt, wer stattdessen als Partner in Frage kommt. «Die Optionen sind beschränkt», stellt Kempin fest. «Sowohl in Polen als auch in Grossbritannien sind EU-kritische Regierungen an der Macht, die sich in der EU kaum als Führungsmächte einbringen wollen.»
Lieber mit anderen Staatschefs
Allerdings habe Kanzlerin Merkel auch selber dazu beigetragen, dass Deutschland in der EU in die Führungsrolle hineingerutscht sei, sagt Baasner. «Merkel hat die EU-Institutionen auf Kosten der Nationalstaaten geschwächt.» So entscheide Merkel lieber zusammen mit anderen EU-Regierungschefs, als die EU-Kommission oder das EU-Parlament miteinzubeziehen.
Doch es ist nicht nur Frankreichs Abseitsstehen, das Deutschland in der Flüchtlingskrise in die Führungsrolle gedrängt hat. «Es macht sich das Fehlen einer gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik der EU bemerkbar», sagt Kempin. Das Resultat: Jedes Land handelt eigenmächtig und ohne Absprache mit anderen EU-Mitgliedern – so auch Deutschland. Mit dem Unterschied, dass die anderen Staaten die Auswirkungen dieses Entscheids selber zu spüren bekommen. Und Berlin so die europäische Politik gewissermassen vorspurt.
Vermittler in der Griechenlandkrise
Trotz Frankreichs Abstehen in der Flüchtlingskrise sei das deutsch-französische Tandem noch nicht am Ende, sagt Baasner. «Frankreichs Zurückhaltung in der Flüchtlingskrise ist eher die Ausnahme als die Regel.» So habe Hollande in der Griechenland-Krise eine wichtige Rolle als Vermittler gespielt – auch wenn dieser Einsatz erst spät zustande gekommen sei. Auch aussenpolitisch sei die Einigkeit gross, fügt Kempin an. «In der Ukraine-Krise oder bei den Verhandlungen mit Iran sind Frankreich und Deutschland stets geschlossen aufgetreten.»
Viel grundsätzlicher aber sei, dass der deutsch-französische Reflex noch immer funktioniere, sagt Baasner. «Wenn es auf europäischer Ebene ein Problem gibt, sagen sich deutsche Politiker immer noch: ‹Schauen wir mal, was die Franzosen dazu sagen.›» So schnell werde dieser Mechanismus nicht verschwinden. «Das wurde über Jahrzehnte geübt und antrainiert.»