Nicolas Hénin hat kein Buch über seine Geiselnahme geschrieben, sondern wegen seiner Geiselhaft. Denn in jenen zehn Monaten hatte er viel Zeit zum Beobachten. Seine Analyse entspricht seinem Auftreten: zurückhaltend, ruhig, nie belehrend. Er kommt zum Schluss, dass sich die westlichen Regierungen, viele Diplomaten und Militärs in ihrer Analyse des Bürgerkrieges in Syrien grundlegend täuschen.
Die grösste Gefahr in Syrien gehe nämlich nicht von der Terrororganisation «Islamischer Staat» aus, erklärt Nicolas Hénin: «Unser Bild der Terroristen wird von deren Propaganda-Videos geprägt. Ich habe ein anderes, ein banaleres Bild. Viele sind verwahrlost, Kleinkriminelle. Sie machen mir keine Angst mehr.»
Hénin hat hinter den Kulissen des IS Menschen beobachtet, die vor allem mit der Pflege ihres Images im Internet beschäftigt sind und weniger mit der Durchsetzung irgendeines ideologisches Eroberungskampfes.
Der Krieg produziert Terroristen und Flüchtlinge.
Hénin war viele Jahre Kriegsreporter in Syrien, lebte monatelang in verschiedenen Konfliktgebieten des Nahen Ostens. Im Zentrum seiner Berichte standen aber nie militärische Schauplätze. Er versuchte stets zu erklären, wie der Krieg die Strukturen der Zivilbevölkerung zerstört. Die westliche Militärkoalition sei sich kaum bewusst, was deren Bomben in Syrien bei der betroffenen Bevölkerung bewirken.
Dies hält der Journalist für einen der grössten Fehler. «Ich habe erlebt, wie die Zivilbevölkerung im Krieg überleben muss. Dieses Schicksal sollten wir immer vor Augen haben. Ansonsten zahlen wir einen hohen Preis. Ein Teil der Bevölkerung radikalisiert sich im Krieg; andere flüchten. Der Krieg produziert also Terroristen und Flüchtlinge.»
Die Verantwortung des Westens
Der Westen habe mit seiner Intervention eine militärische Pattsituation im Land geschaffen. Dieses Patt schaffe nicht Frieden, sondern zementiere den Kriegszustand. Wiederum mit gravierenden Folgen für die syrische Bevölkerung: «Je länger der Krieg dauert, desto schlimmer die Folgen. Ich kenne viele sehr gemässigte Syrer, die sich immer stärker radikalisieren, ihren Glauben an die Demokratie verlieren. Darum gilt es den Krieg so schnell wie möglich zu stoppen.»
Den Krieg stoppen, politische Alternativen prüfen – das müsste im Zentrum des Interesses des Westens sein, ist Hénin überzeugt. Er plädiert nicht grundsätzlich gegen militärische Eingriffe in der Region. Diese gelte es aber auf ein Minimum zu beschränken. «Ich weiss, den Krieg zu stoppen ist einfacher gesagt als getan. Die Intervention der Russen hat alles noch viel komplizierter gemacht. Denn Assads Regime trägt die Hauptverantwortung für den Bürgerkrieg und dieses Regime hat nun einen Verbündeten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.»
Orientierungsloser Westen
Als Folge der Terroranschläge in Europa und nach dem militärischen Eingreifen Russlands in der Region, habe der Westen seine ursprünglichen politischen Ziele in Syrien aus den Augen verloren; nämlich das Regime von Bashar al-Assad zu beenden. Das sei freilich Voraussetzung dafür, den Terroristen des IS ihre Legitimität zu entziehen, ist Hénin überzeugt. «Es ist unmöglich den IS zu bekämpfen, ohne zugleich Assads Regime zu beenden. Assad und der IS sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Beide sind auf den anderen angewiesen, um ihre Macht zu erhalten. Der Westen muss darum beide bekämpfen.»
Die Zivilbevölkerung braucht eine politische Perspektive.
Zurück auf Feld Eins, auf den Anfang und Ursprung des Bürgerkrieges in Syrien; dazu fordert Hénin den Westen auf. Es gelte alle Kräfte darauf zu konzentrieren, dem Wunsch der Zivilbevölkerung zum Durchbruch zu verhelfen: Nämlich darauf hinzuarbeiten, in Syrien eine legitimierte Regierung einzusetzen und später demokratische Wahlen im Land durchzuführen. Nur so könne Syrien nach fünf Jahren Krieg wieder zu Frieden zurückfinden, analysiert Hénin.
Zwei totalitäre Regime besetzten Syrien und Teile des Irak, schliesst der Kriegsreporter: «Die Zivilbevölkerung akzeptiert weder die eine noch die andere Besatzungsmacht. Dieser Zivilbevölkerung gilt es, endlich eine politische Perspektive zu geben.»
Hénin beklagt in seinem Buch also nicht nur die strategischen Fehler des Westens, sondern zeigt auch Wege für politische Lösungen auf. In jedem Fall gelte es das Wohl der syrischen Bevölkerung wieder ins Zentrum der Politik zu stellen – und nicht länger die Suche nach einer militärische Lösung.