Die vielen Menschen vor dem Präsidentenpalast in Kairo waren Mohamed Mursi und seinen Beratern zu viel: Er verliess seinen Palast, während davor Zehntausende Parolen gegen ihn skandierten. Auf beiden Seiten gab es bei Zusammenstössen untereinander und mit der Polizei über 50 Verletzte.
Unterdessen gehen Islamisten und Mursi-Gegner in Kairo aufeinander los. Am Abend dann die Meldung: Tote in Kairo.
«Wir reissen ihnen die Augen aus»
Der Streit um die schrittweise Machterweiterung der Islamisten wird immer gewalttätiger – auch verbal. Die Islamisten suchen Schuldige.
Es seien die Christen, die den Protest gegen Mursi anführten. Dies sagte der für seine radikalen Ansichten bekannte Fernsehprediger Abdullah Badr in einer Talkshow. «Und wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann reissen wir ihnen die Augen aus», fügte er hinzu.
Der in der Schweiz lebende ägyptische Journalist Tamer Aboalenin hingegen sieht die Mubarak-Anhänger hinter den Protesten. «Die Aufregung wird von diesen Kräften manipuliert, nicht von den Revolutionären», wie er sich im Gespräch mit «SF Online» empört.
«Das ist genau die Lüge, welche die Muslimbrüder in Ägypten verbreiten», erklärt Nirvana Shawky. Die junge Ägypterin besetzt eine hohe Position in einer liberalen ägyptischen Partei. Sie war von Anfang an Teilnehmerin der Protestbewegung und demonstriert auch jetzt wieder.
Heterogener Haufen auf der Strasse
Es könne sein, dass unter den Demonstranten auch ein paar Mubarak-Anhänger seien, räumt sie ein. Aber heute seien neben der Revolutionsjugend auch ganz viele neue Leute unter den Protestierenden. «Viele, die noch vor zwei Jahren zu passiv waren oder Angst hatten, sind jetzt zum ersten Mal auf der Strasse und demonstrieren», sagt sie.
Die Opposition ist durch Mursis politische Handlungen zusammengewachsen. Waren die säkularen Parteien nach der Revolution zersplittert, haben sich jetzt mehrere unterlegene Präsidentschaftskandidaten zu einem neuen Oppositionsbündnis zusammengetan. Die Islamisten sehen das nicht gerne. Sie versuchen diese unterdessen mit Anzeigen wegen «Anstachelung der Bürger zum Umsturz» auf dem Umweg über die Justiz auszuschalten.
«Die Muslimbruderschaft wendet jetzt den gleichen Stil an, wie damals Mubarak: Sie versucht, die Opposition öffentlich als Anhänger des alten Regimes zu diskreditieren», erinnert sich die in der Schweiz lehrende Politikwissenschaftlerin Elham Manea.
Gewaltentrennung ausgehebelt
Noch schockierender ist für sie, dass Präsident Mursi ohne Konsens eine neue Verfassung durchgedrückt hat und sich zuvor per Dekret faktisch über die Justiz gestellt hatte. «Dies ist ein klarer Angriff auf die Gewaltentrennung in Ägypten», so Manea.
Nachdem die Welt zunächst schockiert auf Mursis Dekret reagierte, ist es jetzt ruhiger geworden. Die Politologin vermutet, dass manche Länder nun «wie gelähmt zuschauen, weil niemand weiss, was als nächstes passiert».
Nirvana Shawky ist schockiert, dass sich westliche Regierungen kaum über die bevorstehende Abstimmung empören: «Diese Demokratien müssten es besser wissen. Wenn die Gewaltentrennung ausgehebelt wird, reicht es nicht einfach, Wahlurnen aufzustellen. Und wenn eine Mehrheit Ja sagt, ist alles in Butter.» Inzwischen hat US-Aussenministerin Hillary Clinton die Konfliktparteien zu einem ernsthaften Dialog über die Verfassung aufgerufen. Die Proteste in den Strassen Kairos hätten gezeigt, dass dies nötig sei.
«Mursi hat sein Versprechen nicht gehalten»
Grosser Streitpunkt ist die Zusammensetzung des von Islamisten dominierten Verfassungskomitees. Es bestand von Anfang an nur zu einem Viertel aus säkularen Parteien, der Rest aus Moslembrüdern und Salafisten.
Die Politikerin in Kairo, Nirvana Shawky, kritisiert, dass schon bei der Zusammensetzung nie mit offenen Karten gespielt worden sei. «Mursi hat sein Versprechen nicht gehalten, die Verfassungsversammlung ausgeglichener zu machen. Die Islamisten, welche damals das Parlament dominierten, wählten ihre eigenen Kandidaten und dazu einige weniger kritische säkulare Politiker in das 100köpfige Verfassungskomitee». Den Verfassungsentwurf schrieben schlussendlich noch 85 Islamisten mit ihren Verbündeten, weil die säkularen Politiker aus Protest den Saal verliessen.
Nun geht der Protest auf der Strasse weiter. «Mursi stellt uns vor eine diktatorische Wahl: Entweder müssen wir das Dekret oder die Verfassung schlucken», sagt Shawky. «Mursi ist nicht Präsident aller Ägypter. In der Geschichte Ägyptens war das Land nie so gespalten. Jetzt ist es gefährlich. Jeder beschuldigt jeden.»
Es gehe keineswegs um einen Religionskampf, betont sie. «Fast alle Ägypter sind ohnehin Muslime. Die Islamisten wollen jetzt die Leute manipulieren und sagen, dass es ein Kampf um die Scharia ist. Es geht aber nicht darum, es geht um Freiheit und Demokratie gegen Autoritarismus und Diktatur.»
Keine Einigung über Boykott
Auch für Elham Manea ist es eine autoritäre Richtung, die noch gefährlicher ist als unter Mubarak. «Die Islamisten beanspruchen die absolute Wahrheit für sich. Im Sinne: ‹Wir repräsentieren das Gute, die anderen das Böse.› Sie diskreditieren damit im Namen der Religion jeden mit einer anderen Meinung. Im Kern ist das faschistisch.» In den vergangenen Tagen sind in sozialen Netzwerken vereinzelt Aufrufe zum «Dschihad» gegen die politischen Gegner aufgetaucht.
Am 15. Dezember soll nun über den Verfassungsentwurf abgestimmt werden. Elham Manea räumt ein, dass bis dann noch viel passieren kann. Der ägyptische Journalist Aboalenin Tamer ist überzeugt, dass das Referendum durchkommen wird. Nirvana Shawky sieht Chancen für ein Nein, falls es keinen Wahlbetrug gebe. Die Opposition hat sich bis jetzt noch nicht einmal geeinigt, ob sie über das Referendum abstimmen wird. «Wenn wir die Wahl nicht boykottieren, dann akzeptieren wir automatisch Mursis Regeln», sagt Politikerin Shawky.
Lohnt sich ein Kampf ums Prinzip?
Bei der Präsidentschaftswahl nahm der Boykott für die Revolutionsjugend ein bitteren Ausgang: Muslimbruder Mohamed Mursi und Ex-Mubarak-Mann Ahmed Shafik in der Stichwahl. Genau aus diesem Grund falle ihr die Entscheidung schwer.
Und aus noch einem weiteren Grund: Nirvana Shawky hat bei früheren wissenschaftlichen Studien herausgefunden: Noch nie habe ein Volk nach einer Revolution eine neue Verfassung an der Urne abgelehnt. Einen massiven Unterschied gebe es aber: «Das Volk ist normalerweise geeint. Nicht wie heute in Ägypten.»