Am 14. Juli raste ein Lastwagen an der Strandpromenade von Nizza in die Menschenmenge und löschte 84 Leben aus. Der französische Staatspräsident François Hollande sprach noch in der Nacht von einem «terroristischen» Hintergrund. Er begab sich wenige Stunden später vor Ort, um Verletzte im Spital zu besuchen und zur Nation zu sprechen.
Anders die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nach dem Amoklauf am 22. Juli in München mit neun Toten wartete sie erst einmal ab. Erst als alle Fakten gesichert waren, sprach sie am Folgetag zur Bevölkerung, erst heute Donnerstag spricht sie über mögliche Konsequenzen, erst am Sonntag will sie nach München reisen und an einer Trauerfeier teilnehmen. Wie erklären sich die unterschiedlichen Haltungen?
Hollande musste sich später korrigieren, was natürlich peinlich ist
«Das ist Merkels Regierungsstil, den sie auch in ihrer Kommunikationspolitik durchzieht», antwortet SRF-Korrespondent Adrian Arnold. Er passe zu ihrem Wesen als Physikerin, zuerst zuverlässige Fakten zu sammeln, diese zu bewerten und dann zu kommunizieren. «Dies verlangt zwar Geduld, doch so passieren Angela Merkel nur selten Fehler durch voreilige Schlüsse oder unvollständige Fakten.» Hollande habe nach München rasch von einem Terrorakt gesprochen und musste sich später korrigieren. «Das ist natürlich peinlich.»
Viele wünschen sich von der ‹Mutti der Nation› ein Signal
Noch ein anderer Faktor erkläre aber die unterschiedlichen Haltungen, so der frühere Frankreich-Korrespondent. Die Präsenz eines Staatschefs vor Ort habe in Deutschland weniger Bedeutung als in Frankreich. Das habe mit dem unterschiedlichen politischen System zu tun. Während Frankreich zentralisiert organisiert sei, gelte in Deutschland die Autonomie der Bundesländer. Bundeskanzlerin Merkel habe deshalb bewusst zuerst die Landesregierung von Bayern informieren lassen.
Natürlich werde Merkels Schweigen auch kritisiert. Gerade in Zeiten der Verunsicherung und Angst wünschten sich viele von der ‹Mutti der Nation› ein Signal. «Doch sie ist einfach zu gut gefahren mit ihrer Kommunitionspolitik und bleibt ihrer Linie treu», bilanziert Arnold.
«Ein Zaudern hätten die Medien und die politischen Gegner sofort als Schwäche gebrandmarkt»
Generell sei es für Staatschefs eine Gratwanderung, sagt Politikberater Mark Balsiger. «Sie stehen unter einem enormen Druck der Öffentlichkeit. Gleichzeitig kann es nicht ihre Aufgabe sein, bei jedem Vorfall Präsenz zu markieren.»
Er wolle nicht zynisch klingen, betont Balsiger. Doch ein Vergleich mit der Medienwelt zeige: Gebe es Todesfälle beim Gotthard-Tunnel, griffen dies alle Medien auf. Bei Verletzten hätten wohl nur regionale Medien eine kurze Meldung gebracht.
«Dass Präsident Hollande nur Stunden nach dem Amoklauf in Nizza vor Ort reiste, halte ich für richtig», sagt der Politikberater. Weil es schon im letzten Herbst in Paris zu Attentaten gekommen war und der französische Präsident diese als Kriegserklärung interpretierte, habe er Präsenz markieren müssen. Hinzu komme, dass er unpopulär sei und in einem schwierigen Wahlkampf stecke. «Ein Zaudern hätten die Medien und die politischen Gegner sofort als Schwäche gebrandmarkt.»
Ob Staatschefs Präsenz markieren, ist für Attentäter wohl weniger wichtig
Bei Kanzlerin Merkel sehe der Fall anders aus. Deutschland sei im Gegensatz zu Frankreich seit dem Amoklauf von Winnenden 2009 nicht mehr Schauplatz von solchen Gräueltaten gewesen. Deshalb erachte er es als richtig, dass Merkel zurückhaltender reagiere.
Spielen die Staatschefs mit ihrer Präsenz nicht auch den Tätern und Hintermännern in die Hände, indem sie der Tat durch ihre Präsenz noch mehr Gewicht verleihen? «Für die Attentäter steht im Fokus, dass ihre Anschläge eine grosse mediale Beachtung auslösen», sagt Mark Balsiger.
Statistisch gesehen habe es im Europa der Siebzigerjahre bei Terroranschlägen mehr Todesopfer gegeben als heute. Aufgrund der riesigen Beachtung der Medien von heute werde dieses Faktum aber verzerrt oder ausgeblendet. «Ob Staatschefs Präsenz markieren, ist für Attentäter wohl weniger wichtig.»