Und wieder ruft der Muezzin zum Abendgebet. Es beginnt die Zeit für die Familie, für Ruhe und Entspannung. Denn entspannt ist das Zusammenleben hier in Senegal, wo die Muslime die riesige Mehrheit stellen und Christen und andere Religionen nur etwa vier Prozent ausmachen. Clementine Diop ist Historikerin – und Christin. Im Senegal sei die Familie und die Kultur wichtiger als die Religion, sagt sie. Erst an zweiter Stelle sei man Muslim oder Christin. Und sie hoffe, dass das so bleibe.
Die Unruhe ist weit herum spürbar
Zweifel sind angebracht, die Unruhe ist weitherum spürbar. Der neue Krieg im Gazastreifen, die Meldungen über den täglichen Bombenhagel, die vielen Toten, wühlen auch die Senegalesen auf. Und die Meinungen sind gemacht.
Man sei hier nicht gegen die Juden, sagt Amadou Fall Ba. Man sei gegen Menschen, die andere Menschen töteten. Amadou Fall Ba ist aktiv in der Kulturszene in Dakar. Er ist politisch interessiert. Und er versteht nicht, weshalb der Westen tatenlos zuschaut. «Wenn heute Ruandas Präsident Kagame in Kongo-Kinshasa einmarschieren würde, gäbe es einen Aufschrei der Internationalen Gemeinschaft und sie würde Sanktionen verhängen. Aber hier sagen sie: Das ist etwas anderes, Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.» Aber auch wer sich verteidige, müsse doch verhältnismässig vorgehen, empört sich Amadou Fall Ba.
Das grosse hochgerüstete Israel gegen die ohnmächtigen Palästinenser: Diese Sichtweise teilen fast alle hier. Manche gehen weiter, sie organisieren Demonstrationen, verlangen die Schliessung der israelischen Botschaft, gar den Abbruch aller Kontakte zu Israel. Die Spannung steigt.
Die Zivilgesellschaft protestiere gegen die Menschenrechtsverletzungen, sagt der angesehene Religions- und Politikwissenschaftler Bakary Sambe. Der Prostest komme aber nicht nur von muslimischen Organisationen, sondern auch von säkularen Menschenrechtsgruppierungen. Diesen Protesten eine religiöse Dimension zuzuschreiben, sei gefährlich, so Sambe.
Denn der Experte sieht Anzeichen einer Radikalisierung in Senegal. Plötzlich würden etwa in Dakar oder in St. Louis im Norden Muslimbrüder aus den Moscheen der Salafisten ausgesperrt. Plötzlich sei von Ideologien die Rede. Einzelne Denkrichtungen erheben den Anspruch, dass sie allein den wahren Islam verträten. Das zeige, so Sambe, dass diese Gruppierungen die Islamisierung der senegalesischen Gesellschaft anstrebten.
Mehr verhüllte Frauen und Mädchen
Viele beobachten mit Sorge, dass sich auch in den Strassen von Dakar immer mehr Mädchen und junge Frauen verhüllen, dass immer mehr Männer Bärte tragen. Tatsächlich wurden in Senegal schon mehrfach ausländische Dschihadisten und radikale Imame verhaftet, auch mehrere junge Männer, die dem Terrornetzwerk Al Kaida zugerechnet werden.
Die Konflikte in der muslimischen Welt – angefangen bei der iranischen Revolution, über die Golfkriege bis zum neuerlichen Krieg in Gaza – all das beeinflusse das Zusammenleben in Senegal, meint Islamwissenschaftler Bakary Sambe.
«Nicht zu sehr in Sicherheit wiegen»
Er ist ein gefragter Mann, der diese Entwicklungen im In- und Ausland offen kommentiert – und kritisiert. Und deshalb mache er sich zunehmend Sorgen um die eigene Sicherheit, gesteht er nach dem Interview. Und warnt: Auch wenn Senegal bislang eine Insel des Friedens zwischen den Religionen gewesen sei – man dürfe sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen.
Noch gebe es nur selten gewaltsame Aktionen in Senegal, aber wenn die Ideologie einmal Fuss gefasst habe, bringe dies das harmonische Zusammenleben der Religionen in Gefahr, sagt Sambe. Er erinnert an Mali: Auch von diesem Nachbarland habe es bis vor drei Jahren geheissen, die Menschen lebten in Harmonie miteinander.