SRF News: Ungarn ist nicht länger im Zentrum der Flüchtlingskrise – die Aufmerksamkeit hat sich nach Deutschland verschoben. Wie ist die Situation in Ungarn heute?
Marta Pardavi: Seit dem 15. September hat sich alles verändert. Zu diesem Zeitpunkt ist in Ungarn ein neues Gesetz in Kraft getreten, das harte Strafen für den illegalen Grenzübertritt vorsieht. Gleichzeitig hat die Regierung die Grenze zu Serbien geschlossen. Das hat dazu geführt, dass von der serbischen Grenze aus nur noch sehr wenige Flüchtlinge nach Ungarn gelangen: Gestern waren es gerade einmal 11 Personen.
Was passiert mit ihnen?
Ungarn hat an der Grenze eine Transitzone eingerichtet, in der die Flüchtlinge registriert werden. Der Asylprozess dauert nur wenige Stunden und endet fast immer mit einem negativen Bescheid. Nur wer besonders verletzlich ist – etwa Familien mit Kleinkindern – darf in Ungarn Asyl beantragen. Alle anderen werden nach Serbien zurückgeschickt.
Möglich ist das, weil die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt hat – obwohl Flüchtlinge laut dem Uno-Flüchtlingswerk UNHCR dort nicht genügend Schutz erhalten. Dennoch geht Orbans Rechnung nicht auf: Serbien weigert sich, Flüchtlinge zurückzunehmen. Als Folge davon landen die Flüchtlinge in Ungarn in geschlossenen Ausschaffungszentren. Nur wer Asyl beantragt, kommt in ein Asylzentrum. Besonders hart trifft es jene Flüchtlinge, die durch ein Loch im Grenzzaun – und damit illegal – nach Ungarn gereist sind: Wenn sie es verpassen, Asyl zu beantragen, landen sie in Ausschaffungshaft.
Wenn Ungarn die Flüchtlinge nicht registriert, muss es sie später auch nicht zurücknehmen.
An der serbischen Grenze hat Ungarn den Flüchtlingsstrom also bremsen können. Wie sieht es an der kroatisch-ungarischen Grenze aus?
Dort ist der Flüchtlingsstrom ungebrochen: Pro Tag kommen an der kroatisch-ungarischen Grenze zwischen 5800 und 6000 Flüchtlinge an. Doch obwohl Ungarn die Flüchtlinge registrieren müsste, tut es das nur oberflächlich – Fingerabdrücke werden beispielsweise keine genommen. Die ungarische Regierung rechtfertigt diesen Schritt, indem sie behauptet, die Flüchtlinge seien bereits in Kroatien registriert worden. Doch Kroatien ist nicht Teil des Schengen-Raums, deshalb müsste Ungarn die Flüchtlinge sehr wohl registrieren. Aber wenn das nicht passiert, können die Flüchtlinge später aus anderen Staaten nicht nach Ungarn zurückgeschickt werden.
Nach der oberflächlichen Registration werden die Flüchtlinge zu den Zügen gebracht, die sie an die österreichische Grenze fahren. Zeit, einen Asylantrag zu stellen, bleibt damit nicht – auch nicht für jene, die in Ungarn bleiben wollten. Damit hat die Regierung es geschafft, dass praktisch niemand mehr Asyl beantragt.
Weniger als 100 Menschen wurden bis Ende September als Flüchtlinge anerkannt.
Wie viele Flüchtlinge befinden sich denn heute in Ungarn?
In der ersten Jahreshälfte haben 176‘000 Personen in Ungarn Asyl beantragt. Doch bis Ende September wurden weniger als 100 Menschen als Flüchtlinge anerkannt; weniger als 300 erhielten den Status als subsidiäre Schutzsuchende [ein Status, der etwas weniger weiter geht als der Flüchtlingsstatus, Anm. d. Red.]. Die meisten Flüchtlinge sind inzwischen weitergereist: In den Empfangszentren warten im Moment gerade einmal 638 Personen auf einen Asylentscheid. Dazu passt, dass die Regierung das grösste Empfangszentrum schliessen will, das Platz für 850 Personen bietet. Das ist auch ein innenpolitisches Statement.
Dann hat Ungarn das Flüchtlingsproblem erfolgreich nach Deutschland exportiert?
Ja, das hat es tatsächlich. Mit viel Geld ist es der Regierung gelungen, die Message zu verbreiten, dass Flüchtlinge in Ungarn nicht willkommen sind. So hat sie beispielsweise Anzeigen geschaltet in Zeitungen von Transitländern, in denen steht, dass die Ungarn zwar gastfreundliche Menschen sind, dass aber bei einem illegalen Grenzübertritt Gefängnisstrafen drohen (siehe Bild). Zuvor hatte die Regierung eine Umfrage durchführen lassen, in der sie mit tendenziösen Fragen zu Flüchtlingen negative Antworten vorwegnahm. Dazu hingen im ganzen Land Plakate – an Flüchtlinge gerichtet – auf denen es hiess: «Ihr habt kein Recht, unsere Jobs wegzunehmen.» Für die ganze Kampagne hat Orban vier Millionen Euro Steuergelder ausgegeben. Mit Erfolg: Die Zustimmung zur Regierung ist gestiegen. Nun hängen erneut Plakate. «Das ungarische Volk hat entschieden: Das Land muss beschützt werden», steht darauf.