Die Flüchtlingswelle übers Mittelmeer ebbt nicht ab: Dieses Jahr sind schon über tausend Menschen bei ihrem Versuch gestorben, in kleinen Booten europäischen Boden zu erreichen. Besonders exponiert ist Lampedusa: Die Insel gehört zu Italien und liegt nur 113 Kilometer vor Tunesien. Deshalb landen hier besonders viele Bootsflüchtlinge.
Bürgermeisterin Giusi Nicolini versteht sich als Stimme sowohl der Einheimischen als auch der Flüchtlinge: «Die Migrationspolitik zeigt den Zivilisationsgrad einer Gemeinschaft.» Die «Rundschau» hat Nicolini auf Lampedusa getroffen. Die Bürgermeisterin fordert humanitäre Korridore für die Flüchtlinge: «Wir dürfen diesem Völkermord im Mittelmeer nicht zuschauen.»
Giusi Nicolini hat Papst Franziskus 2013 auf seiner ersten Auslandreise empfangen. Er sieht Lampedusa als «Vorbild der Solidarität.» Doch es sterben weiterhin Menschen im Meer. Deshalb wird Giusi Nicolini nicht müde, die EU zu kritisieren. Zusammen mit den Bootsflüchtlingen im Mittelmeer erleide auch die europäische Idee Schiffbruch.
Drama wird zur Normalität
Ein Flüchtling, der den Marsch durch die Sahara und die Fahrt übers Meer geschafft hat, zeigt der «Rundschau» seine verletzten Hände. Mit Leim hat er sich seine Haut verätzt. Er hat Angst, die italienischen Behörden könnten ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren. Der junge Mann will Asyl im Norden, nicht in Italien. Lehnt ihn ein Land ab, war seine Flucht vergebens. So will es das Dublin-Abkommen.
Für Giusi Nicolini handeln die europäischen Staaten ignorant: «Für uns ist dieses Drama zur Normalität geworden. Der Rest der Welt, besonders der Norden, sieht es immer wieder als Naturkatastrophe.» Lampedusa und seine Bevölkerung würden im Stich gelassen: «Reiche Länder wie die Schweiz müssen die Mittelmeerländer unterstützen – und sie müssen zu Orten wie Lampedusa stehen, die bloss von Touristen und Fischen leben.»