SRF News: Das Bild, dass die konservative Regierungspartei in London momentan abgibt, ist ein zwiespältiges: Einerseits ist ihre Macht unbestritten, andererseits scheint sie in der Brexit-Frage ziemlich zerstritten. «Harter Brexit», «weicher Brexit» – ist das ein Richtungskampf, oder nur ein harmloses Scharmützel?
Martin Alioth: Es ist ganz klar ein Richtungskampf innerhalb der konservativen Partei und es geht dabei um die Frage, wie das Verhältnis zur EU künftig gestaltet sein soll. Die Einen fürchten vor allem die wirtschaftlichen Konsequenzen und möchten so viel wie möglich von der Beziehung zur EU retten, etwa den Zugang zum Binnenmarkt. Die anderen setzen auf den Alleingang, auf den so genannten «harten Brexit». Sie wollen die Kontrolle über die Einwanderung, einen Ausstieg aus der Zollunion und das Recht zurück, Handelsabkommen mit anderen Staaten auszuhandeln. Die Premierministerin, die sich selbst vor der Abstimmung für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hatte, hat nun deutlich gemacht, dass sie dem «Volkswillen» folgen will und einen klaren Bruch anstrebt. Sie vertritt mit dieser Haltung die Mehrheit in der Regierung.
Ärger droht Theresa May aber auch aus dem Parlament, das bei den Brexit-Verhandlungen mitreden möchte. Die Regierung wurde in dieser Frage sogar verklagt...
Zumindest vordergründig geht es hier um eine technische Frage. May will den Austritt aus der EU ohne Konsultation des britischen Parlaments beantragen und beruft sich dabei auf eine historische Rechtsauffassung, die besagt, dass die britische Regierung im Auftrag des Königshauses handelt und darum keinen Segen des Parlaments brauche. Ihre Gegner werfen ihr «Eigenmächtigkeit» vor. Allerdings erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Parlamentarier den Brexit abblasen würden, falls das Gericht in ihrem Sinn entscheidet. Nur ganz wenige Abgeordnete stellen den Volksentscheid grundsätzlich in Frage. Aber natürlich geht es auch hier um die Interpretation des Brexit-Entscheids, um die Frage, in welche Richtung die Verhandlungen gehen sollen.
Jede Regierung sollte von einer starken Opposition täglich herausgefordert werden.
Viele Ökonomen und Unternehmer warnen: Eine harte Scheidung mit der EU habe für Grossbritannien starke Einbussen zur Folge. Eine konservative Premierministerin, die die Interessen der Wirtschaft zu ignorieren scheint – das war doch vor kurzem undenkbar?
Ja, da gab es viel Bewegung in der britischen Politik seit dem Brexit-Entscheid. Und was Theresa May heute macht, ist wirklich aussergewöhnlich für eine konservative Premierministerin. Sie versucht den grossen Bogen von links nach rechts und kolonisiert Labour- wie auch Ukip-Wählerschichten. Sie hofiert einerseits die sozial Schwachen und will die Rechte der Arbeiter stärken, gleichzeitig gibt sie sich jedoch stark patriotisch, will mehr Polizei und weniger Einwanderung. Das ist wirklich ein frecher, ja tollkühner politischer Spagat, der nur möglich ist, weil es keine echte Opposition mehr gibt.
Die Opposition – das wäre ja eigentlich die Aufgabe der Labour-Partei. Aber diese ist zermürbt von einem langwierigen innerparteilichen Machtkampf und hat miserable Zustimmungswerte. Ein Machtwechsel bei den nächsten Wahlen scheint ausser Reichweite Wird das zum Problem für die britische Demokratie?
Ich masse mir als Korrespondent nicht an zu beurteilen, ob eine schwache Labour-Partei gut oder schlecht ist für Grossbritannien, aber als Beobachter mache ich mir Sorgen. Jede Regierung braucht eine starke Opposition, die sie tagtäglich herausfordert und darauf testet, ob sie ihre Aufgaben sorgfältig erledigt. Wenn da nichts mehr kommt, weil die Labour-Partei zu einem Personenkult um ihren Parteichef degeneriert ist und weil viele eigentlich fähige Leute in der Partei nichts mehr zu sagen haben, ist das sicher nicht gesund.
Labour wird von allen Seiten bedrängt. In Schottland hat sie ihr Terrain fast komplett an die SNP (Scottish Nationalist Party) verloren, in anderen Regionen gräbt ihr die rechtsaussen-Partei Ukip Wähler ab. Wird sich die ehemals stolze Arbeiterpartei überwinden können und mittelfristig zu Koalitionen bereit sein?
Unwahrscheinlich. Denn ohne eine Zusammenarbeit mit der SNP ginge es nicht. Aber gerade die linken Nationalisten aus Schottland waren es, die Labour bei den letzten Wahlen die meisten Sitze weggenommen und sie so gedemütigt haben. Da wird sich so schnell nichts bewegen. Sicher nicht unter dem jetzigen linken Parteichef Jeremy Corbyn. Gleichzeitig scheint eine Spaltung von Labour ebenso unwahrscheinlich. Die entstandenen Gruppierungen würden in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Labour wird also zumindest mittelfristig weiter vor sich hin darben und auf bessere Zeiten hoffen.
Die rechtspopulistische Ukip hat in der Vergangenheit sowohl bei Labour wie auch bei den konservativen Stimmen abgegraben. Ihr Thema war der Brexit und das Abstimmungsresultat ihr grosser Sieg. Nun aber scheint die Partei orientierungslos. Zuletzt hat die Parteispitze innert kürzester Zeit mehrfach gewechselt. Wird Ukip weiterhin eine Rolle spielen?
Es stimmt, die Partei hat mit dem Brexit-Entscheid ihr grosses Ziel erreicht und gleichzeitig ihr Hauptthema verloren. Ihr Führungspersonal ist mittelmässig und die Konservativen graben ihr mit ihrer Post-Brexit-Politik Wähler ab. So gesehen könnte man sagen: Die Partei ist am Ende. Aber: Ukip hat nach wie vor Potenzial und ist vor allem für die Labour-Partei in ihren Hochburgen im Norden ein Bedrohung. Dort ist Ukip bei den letzten Wahlen in zahlreichen Wahlkreisen auf den zweiten Platz vorgerückt und wenn sie ihre Karten gut spielt, hat sie durchaus Chancen auf weitere Sitze und somit auf einen weiteren Rechtsrutsch.
Das Ja zum Brexit scheint für viele Britinnen und Briten auch ein Protestvotum gewesen zu sein: Gegen die herrschende «Elite». In diesem Sinne ist Ukip eine Protestpartei, die bei den letzten Wahlen zwar vier Millionen Wählerstimmen machte, aber dennoch nur einen einzigen Sitz im Parlament ergatterte. Wegen des englischen Mehrheitswahlsystems, das kleineren Parteien keine Chance gibt. Eine Wahlrechtsreform könnte solche Protestwähler sicher besser einbinden…
Premierministerin Theresa May würde wohl eher von den Klippen von Dover springen, als sich darauf einzulassen. Sie ist mit den jetzigen Machtverhältnissen nahezu unantastbar und verspürt so auch keinen Druck, etwas am System zu ändern. Die letzte Umfrage gibt ihr einen 17-Prozent-Vorsprung auf die Opposition. Falls heute gewählt werden würde, wäre dies mehr als ein Erdrutschsieg.
Ukip ist für Labour nach wie vor eine Bedrohung.
Aber nicht ganz Grossbritannien steht hinter der Premierministerin. Und mit dem drohenden «harten Brexit» ist die Schottland-Frage wieder aktueller denn je. Die dort regierenden schottischen Nationalisten (SNP) bereiten die Region offensichtlich auf ein zweites Referendum vor – ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde eingereicht – kommt nun die Abspaltung?
Diese Suppe wird wohl vorerst nicht so heiss gegessenen, wie es erscheinen mag. Was Regierungschefin Nicola Sturgeon mit diesem Gesetz erreichen will, ist zweierlei: Erstens will sie die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie ein zweites Referendum abhalten könnte. Dafür braucht sie allerdings auch die Zustimmung Londons. Zweitens schwingt sie so auch eine Keule in Richtung britische Regierung: Schottland will unbedingt Mitglied des europäischen Binnenmarkts bleiben – darum braucht es für Schottland eine Sonderregelung, falls May an ihrem Kurs festhält. Die Möglichkeit des Referendums bildet hier die Drohkulisse. Aber Sturgeon handelt überlegt und wird eine Abstimmung nur anstreben, wenn sie von einem Erfolg überzeugt ist. Die aktuellen Umfragen sprechen nicht dafür.