Im November 2015 gewann die Partei von Aung San Suu Kyi die Wahlen in Burma. Seit April führt die Friedensnobelpreisträgerin die Regierungsgeschäfte. Am Tag der Feierlichkeiten zum 69. Todestags von Suu Kyis Vater, Aung Sang, zieht SRF-Korrespondentin Karin Wenger eine erste Bilanz der Politik der 71-Jährigen.
SRF News: Sie waren heute bei den Feierlichkeiten zum Todestag von Aung Sans Suu Kyis Vater dabei. Ist Ihnen etwas Spezielles aufgefallen?
Karin Wenger: Ja, durchaus. Der Tag begann früh beim Mausoleum der neun Männer, die am 19. Juli 1947 ermordet wurden. Aung San Suu Kyi kam und legte Blumen nieder für ihren toten Vater. Dieser gilt auch als Vater der Nation, als jener Mann, der das Land in die Unabhängigkeit geführt hat. Die Militärdiktatoren versuchten, ihn aus dem nationalen Gedächtnis zu verdrängen, nachdem seine Tochter 1988 zur Anführerin der Demokratiebewegung aufgestiegen war. Deshalb war es heute besonders interessant, dass nicht nur Aung Sang Suu Kyi und andere Angehörige der Ermordeten, sondern auch der Militärchef höchstpersönlich kam, um seinen Respekt zu zollen. Das verdeutlicht das neue Verhältnis zwischen der ehemaligen Oppositionsführerin und der Armee nach den Wahlen letzten November.
Aung San Suu Kyis Partei NLD gewann diese Wahlen haushoch und lenkt seit April die Regierungsgeschäfte. Hat sie die hohen Erwartungen erfüllt?
Noch nicht, aber es sind ja auch erst 100 Tage vergangen: Sie hat inzwischen ein paar politische Gefangene entlassen, sie hat Reformversprechen gemacht, sonst gibt es noch keine ersten Meilensteine. Aber die Leute sind geduldig. Sie sagen: Gebt der neuen Regierung Zeit, sie hat ein Land am Abgrund geerbt. Und heute, am Tag der Märtyrer, konnte ich noch denselben Enthusiasmus spüren wie im November. Damals sagten alle: Die Armee muss weg, sie hat unser Land zu Grunde gerichtet, die Wirtschaft ruiniert, die Menschen mundtot gemacht, das muss ein Ende haben. Nun ist die Armee zwar nicht weg, sondern hat immer noch grossen Einfluss und auch 25 Prozent aller Sitze im Parlament, aber es herrscht ein Klima von viel grösserer Freiheit. Alle meine Gesprächspartner haben sich sehr unerschrocken geäussert – etwas, das früher nicht denkbar gewesen wäre.
Es herrscht ein Klima von viel grösserer Freiheit.
Das Land ist gezeichnet von Jahrzehnten des Bürgerkrieges und bewaffneter Konflikte mit ethnischen Minderheiten. Hat Suu Kyi bessere Chancen für einen Friedensschluss als die Militärs?
Ja, aber es wird nicht ohne Armee gehen, weil die Teil des Problems ist und eine sehr zwiespältige Rolle spielt. Burma ist ja seit der Unabhängigkeit von Bürgerkriegen geplagt. Heute gibt es über zwanzig unterschiedliche ethnische Rebellengruppen, die mehr Autonomie fordern. Mit acht von ihnen hat die Armee im vergangenen Herbst ein Friedensabkommen geschlossen. Doch das hat das Land nicht etwa befriedet, sondern paradoxerweise in vielen Regionen den Konflikt sogar noch angeheizt. Ich war eben im Shan Staat, im Osten des Landes. Dort bekämpften verschiedene ethnische Gruppen vorher die Armee.
Nun bekämpfen Rebellen, die mit der Armee ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen haben, jene, mit denen die Armee kein solches Abkommen unterzeichnet hat. Es scheint, als bestimme die Armee mit ihrer Strategie von «herrsche und teile» das Spiel weiter. Suu Kyi versucht nun, mehr Rebellengruppen in den Friedensprozess einzubinden, und will als Vermittlerin zwischen den Gruppen und der Armee auftreten. Sie hat sich am Sonntag mit einigen Gruppen getroffen und für Ende August eine grosse Friedenskonferenz angekündigt. Das heisst:, es geschieht etwas, aber man kann wohl nicht erwarten, dass Frieden über Nacht kommen wird.
Man kann nicht erwarten, dass Frieden über Nacht kommt.
Nicht nur verschiedene ethnischen Minderheiten setzen auf Aung San Suu Kyi, auch die muslimische Minderheit der Rohingya hoffte, dass die Diskriminierung mit der Friedensnobelpreisträgerin enden würde. Hat sich diese Hoffnung bestätigt?
Nein, im Gegenteil. Wie Aung San Suu Kyi bislang das Thema Muslime im allgemeinen und Rohingya im Besonderen anpackt, ist sehr ernüchternd. Die Rohingya wollen als Burmesen anerkannt werden, und das versucht die Regierung zu verhindern. Die NLD hatte einen Wahlkampf ohne einen einzigen muslimischen Kandidaten auf ihrer Liste geführt. Damals sagte sie, das sei Pragmatismus, um die einflussreichen buddhistischen Mönche nicht zu verärgern – und damit Wählerstimmen zu verlieren.
Doch nun sind die Wahlen längst vorbei, und Suu Kyi versucht das Thema Rohingya möglichst als «Nicht-Thema» zu behandeln. Sie forderte sogar, dass man nicht mehr Rohingya sagen solle, sondern von den Muslimen im Rakhine Staat sprechen solle, also jenen 100'000 Männern, Frauen und Kindern, die seit den blutigen Zusammenstössen zwischen Muslimen und Buddhisten vor vier Jahren in einem Lager gefangen sind. Die Friedensnobelpreisträgerin müsste ganz dringend eine menschenwürdige Lösung für sie finden.
Die Friedensnobelpreisträgerin muss eine menschenwürdige Lösung für die Rohingya finden.
Sie ziehen also eine durchzogene Bilanz der ersten Regierungstage?
Ja. Zwar ist in Burma die Hoffnung noch immer sehr gross, dass nun eine neue Ära angebrochen ist, aber wie heute ein ehemaliger politischer Gefangener sagte: Man muss die neue Regierung aufmerksam beobachten, nicht dass sie sich nach Jahren von Militärdiktaturen zur neuen Diktatorin aufschwingt.
Das Gespräch führte Erich Wyss.