Fast vier Jahre ist es her, dass der arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang genommen hat. Damals stürzten die Tunesier den Diktator Ben Ali – morgen Sonntag wählen sie nun ihren Präsidenten. Im zweiten Wahlgang stehen sich zwei Kandidaten gegenüber: Moncef Marzouki, der Übergangspräsident, und Beji Essebsi, der erste Regierungschef nach dem Sturz des Diktators.
Favorit ist Essebsi. Der 88-jährige erhielt im ersten Wahlgang am meisten Stimmen. Sein Gegenkandidat Marzouki hofft jedoch, in der Stichwahl mithilfe der Islamisten zu gewinnen. Denn die islamistische Ennahda-Partei hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, obwohl sie die zweitmeisten Sitze im Parlament hat.
Anhänger des alten Regimes
Essebsi ist Chef der Allianz Nidaa Tounes, die im Oktober die Parlamentswahlen gewonnen hat. Die Partei steht für ein liberales und säkulares Tunesien, doch unter den Mitgliedern sind auch ehemalige Anhänger von Ben Ali.
Essebsi sieht sich als Erbe des Staatsgründers Habib Bourguiba. Dieser regierte das Land nach der Unabhängigkeit 1956 autoritär, hob aber zugleich die Polygamie auf und stellte Mann und Frau gleich.
Der Jurist Essebsi war einst Berater von Bourguiba und war unter ihm Innen-, Aussen- und Verteidigungsminister. Viele Tunesier schätzen seine Lebenserfahrung. Im Wahlkampf konnte er mit dem Thema innere Sicherheit punkten. Tunesier müssten wählen, mahnte er: Rechtsstaat und Fortschritt oder Salafisten und Dschihadisten.
So überrascht es nicht, dass an einer Wahlkampfveranstaltung von Essebsi Werbespots gezeigt werden, in denen die radikalen Islamisten für die Schwierigkeiten im Land verantwortlich gemacht werden. «Wir haben diese drei Jahre irgendwie überstanden», sagt ein Essebsi-Anhänger. «Doch jetzt braucht es tiefgreifende Reformen. Beji Essebsi wird sie ergreifen.»
Gespaltenes Land
Tatsächlich ist Tunesien gespalten in Anhänger der Islamisten und ihre säkulären Gegner. Essebsis Gegenkandidat Marzouki suchte im Wahlkampf die Nähe von Islamisten und verärgerte damit weltliche Tunesier. Marzouki warnte davor, dass die Partei Nidaa Tounes zuviel Macht hätte, falls Essebsi in den Präsidentenpalast einziehen sollte.
Marzouki engagierte sich lange Jahre für Menschenrechte. In Frankreich studierte er Medizin und wurde später in Tunesien Universitätsprofessor. Wegen seiner Opposition zu Ben Ali durfte der 69-Jährige später nicht mehr an staatlichen Universitäten lehren, mehrmals kam er ins Gefängnis. Schliesslich ging er ins französische Exil.
Terrordrohungen vor der Wahl
Überschattet wird die Abstimmung am Sonntag von Terrordrohungen. 124 Wahllokale – meist an der tunesisch-algerischen Grenze – öffnen aus Sicherheitsgründen später und schliessen früher. Etwa 100'000 Soldaten und Polizisten sind im Einsatz.