Deutschland soll als erstes europäisches Land ein «drittes Geschlecht» erhalten. Dies hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil entschieden. Bislang hatten Intersexuelle – also Menschen, die sich nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen liessen – nur die Möglichkeit, kein Geschlecht in ihren amtlichen Papieren einzutragen. Oder sie mussten sich für «weiblich» oder «männlich» entscheiden. Mit dem gefällten Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll sich das aber jetzt ändern.
SRF News: Andrea Büchler, was sind die grössten Herausforderungen bei dieser Pionierarbeit?
Andrea Büchler: Pionierarbeit bedeute immer, Tabus aufzubrechen. Dinge zu benennen, sie sichtbar zu machen – und das hat das Bundesverfassungsgericht in Deutschland mit seinem gefällten Urteil mit Sicherheit getan. Intersexualität oder Varianten der Geschlechtsentwicklung wurde lange Zeit tabuisiert. In Deutschland wurde mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts quasi ein Kontrapunkt gesetzt.
Die Varianz in der Geschlechtsentwicklung wird jetzt sichtbar gemacht. Das ist der Kontrapunkt zur Tabuisierung.
Derzeit können Intersexuelle Menschen in Deutschland die Nennung des Geschlechts in ihren amtlichen Papieren offen lassen. Jetzt soll dieses dritte Geschlecht aber auch einen Namen bekommen: «Inter», «Divers» oder wie das Bundesverfassungsgericht mitteilen lässt: «Eine andere positive Bezeichnung des Geschlechts». Warum ist es wichtig, dem dritten Geschlecht einen konkreten Namen zu geben?
Die Möglichkeit, es zu benennen, bringt zum Ausdruck, dass es sich um eine Geschlechtsidentität handelt – und diese gehört zur Persönlichkeit. Zudem ist die Geschlechtsidentität als Persönlichkeitsmerkmal geschützt. Ausserdem wurden Intersexuelle mit der Abwesenheit eines Geschlechts gegenüber «männlichen» und «weiblichen» Personen diskriminiert. Jetzt wird nicht mehr verschwiegen. Die Varianz in der Geschlechtsentwicklung wird jetzt sichtbar gemacht. Das ist der Kontrapunkt zur Tabuisierung oder zum Verdrängen.
Die beiden Geschlechtskategorien sind nicht nur akzeptiert, sondern auch tief verankert.
Es steht derweil die juristische Frage im Raum, wie das dritte Geschlecht heissen soll. Haben Sie einen konkreten Vorschlag?
Ich habe keine besondere Meinung, wie das dritte Geschlecht genau genannt werden soll. Aber natürlich gibt es im rechtlichen Kontext verschiedene Varianten, mit dieser Frage umzugehen: Einerseits gibt es die Möglichkeit, auf den Eintrag des Geschlechts gänzlich zu verzichten. Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Dualität der Geschlechter zu belassen, aber den Geschlechtswechsel oder eine Berichtigung des Geschlechts ohne grössere Hürden zu ermöglichen und diesen letztlich auch vollziehen zu können. Das gefühlte Geschlecht soll die betroffene Person auch eintragen dürfen.
Die Nationale Ethikkommission hat sich mit all diesen Möglichkeiten befasst und kam zum Schluss, dass die beiden Geschlechtskategorien «männlich» und «weiblich» beizubehalten sind. Sie sind nicht nur akzeptiert, sondern auch tief verankert. Doch wir müssen den betroffenen Personen die Möglichkeit einräumen, rasch eine Änderung ihres Eintrags zu bewirken.
Welche Schwierigkeiten in Bezug auf das dritte Geschlecht stellen sich aus medizinischer Sicht?
Die Medizin beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, wie sie mit Neugeborenen Kindern umgehen soll, die mit einem uneindeutigen Geschlecht zur Welt kommen. Früher war es so, dass die Überlegung im Raum stand, sehr rasch geschlechtszuweisende Operationen vorzunehmen – dies, obwohl dafür kein medizinischer Grund vorlag. Von dieser Praxis ist die Medizin jedoch abgerückt.
Auch die Nationale Ethikkommission wie auch andere Organisationen haben dazu Stellung genommen und nehmen eine Haltung ein: Medizinisch nicht indizierte Operationen an Neugeborenen und Kleinkindern sollen nicht zulässig sein. Man müsse mit einem solchen Eingriff zuwarten, bis sich die betroffene Person selbst dazu äussern kann.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.