Nach zwei Anschlägen in Kabul, zu denen sich der sogenannte Islamische Staat (IS) bekannt hat, ist klar, dass neben den Taliban mindestens eine andere islamistische Gruppierung in Afghanistan Machtansprüche stellt. Es handelt sich um eine regionale Splittergruppe des IS, wie Markus Kaim ausführt.
SRF News: Haben die Taliban die Lage nicht im Griff?
Markus Kaim: So weit würde ich nicht gehen, zumindest nicht in dieser Allgemeinheit. In der Tat stellen wir fest, dass ihr Herrschaftsanspruch von anderen islamistischen Gruppen infrage gestellt wird.
Das Signal des IS ist deutlich: Wir wollen Afghanistan als Basis gebrauchen.
Das ist bereits durch entsprechende Auskünfte des IS deutlich geworden, auch mit Terroranschlägen. Ich denke vor allem an denjenigen an einer Mädchenschule im April, als 85 Menschen ums Leben kamen. Das Signal des IS ist deutlich: Wir wollen Afghanistan als Basis gebrauchen.
Was weiss man über den IS in Afghanistan?
Es handelt sich um eine Splittergruppe, die sich aus afghanischen und pakistanischen Radikalen zusammensetzt – es sind ehemalige Taliban. Die Gruppe hat 2015 dem sogenannten Islamischen Staat im Irak und in Syrien Treue gelobt. Damit fügt sie sich in eine Reihe regionaler Ableger des IS ein. Uns im Westen ist der IS vor allem im Irak und in Syrien entgegengetreten. Im Irak hat es Tausende von Anschlägen gegeben, so weit sind wir in Afghanistan noch nicht. Man geht von 800 Kämpfern aus, aber das ist ungewiss.
Wie werden die Vorfälle mit dem IS von den Taliban gedeutet?
Die Taliban mussten sich in den letzten zwei Wochen als gemässigt präsentieren, als moderater, als sie eigentlich sind, weil sie jetzt in der Regierungsverantwortung sind. Die Bekundungen zur nationalen Einheit und zur Gesellschaftsordnung – gemeint sind Frauen, die ausser Haus arbeiten, und Mädchenschulen – und auch das Einvernehmen mit dem Westen bei der Evakuierung missfällt dem IS offenbar. Der IS ist radikaler und hat gestern in zwei Richtungen ein Signal ausgesandt. Erstens: Wir können die westlichen Invasoren aus Afghanistan vertreiben. Zweitens: Wir bestreiten die Herrschaft der Taliban und fordern sie heraus.
Die USA werden trotz der 13 Toten den Einsatz abwickeln und dann versuchen, nie wieder nach Afghanistan zurückzukehren, jedenfalls nie wieder mit einer massiven militärischen Präsenz.
Wie wirken sich die Anschläge auf die Evakuierungen aus?
Die Grundtendenz ist eindeutig. Viele westliche Staaten wie Australien, Kanada, Deutschland, Belgien haben den Einsatz früher beendet, als sie es geplant hatten. Daher kann der IS triumphieren und darauf verweisen, wie machtvoll er ist. Die USA werden trotz der 13 Toten den Einsatz abwickeln und dann versuchen, nie wieder nach Afghanistan zurückzukehren, jedenfalls nie wieder mit einer massiven militärischen Präsenz. Die USA wollen sich auf die Terrorbekämpfung beschränken, das heisst, auf Drohnenangriffe und auf Einsätze von Spezialkräften und Luftangriffen. Aber Afghanistan wird im Fokus der USA bleiben.
Wird Afghanistan wieder ein Hort des internationalen Terrorismus?
Das ist schwer zu beurteilen. Die US-amerikanischen Geheimdienste gehen davon aus, dass Al-Kaida – der dritte relevante terroristische Akteur – unter Herrschaft der Taliban innerhalb von zwei Jahren wieder in der Lage sein wird, Anschläge in westlichen Hauptstädten zu verüben.
Wenn man diese Darstellungen der Lage ernst nimmt, ist es sehr schwer zu glauben, dass Afghanistan nicht wieder zu einem Rückzugs-Rekrutierungsort von Terroristen wird.
Die UNO hat im Juni einen Bericht vorgelegt, in dem von einer engen Kooperation zwischen den Taliban und Al-Kaida die Rede ist. Wenn man diese Darstellungen der Lage ernst nimmt, ist es sehr schwer zu glauben, dass Afghanistan nicht wieder zu einem Rückzugs-Rekrutierungsort von Terroristen wird. Auch der IS fügt sich in dieses Bild ein, anders als Al-Kaida aber in Abgrenzung zu den Taliban.