Viele Beobachter bezeichnen das Jahr 2024 als «annus horribilis», als «Schreckensjahr». Tatsächlich: Geopolitisch betrachtet war es kein gutes Jahr, die negativen Trends waren zahlreicher und markanter als die positiven. Fünf Beispiele:
2024 als Superwahljahr
Mehr als die Hälfte der Menschheit konnte 2024 wählen gehen. Und das in rund 75 Ländern. Ein Rekord. Deshalb ist vom Superwahljahr 2024 die Rede. Bei näherer Hinsicht ist das etwas nüchterner zu beurteilen. Zahlreiche Wahlen waren nicht annähernd fair, frei und demokratisch. Etwa jene in Russland, Venezuela, Iran oder Algerien. Andere wurden stark manipuliert – wie jene in Georgien.
Auffallend ist auch: Vielerorts, nicht zuletzt in Europa, haben gemässigte Parteien, Mitteparteien, deutlich verloren. Zugelegt haben links- und noch öfters rechtspopulistische, mitunter gar rechtsextreme Parteien. Linkspopulisten siegten in der Slowakei, in Mexiko und legten in Frankreich stark zu. Rechtspopulisten triumphierten ganz besonders in den USA mit Donald Trump, aber waren auch in Frankreich, Rumänien, Portugal, den Niederlanden oder in Österreich und regional in Deutschland erfolgreich.
Typisch für diese Wahlsieger: Sie artikulierten breite Frustrationen in der Bevölkerung (Inflation, Migration), aber sie bieten keinerlei realistische politische Lösungen an.
Oft sind die Wahlsieger von 2024 keine überzeugten Demokraten, sondern haben stark autoritäre Züge und Methoden. Das deckt sich mit einem Wandel bei vielen Wählerinnen und Wählern, welche – laut zahlreichen Umfragen – die Demokratie nicht mehr besonders wertschätzen und sich durchaus mit autoritären Regierungsformen anfreunden können. Besonders markant ist dieser Trend bei Jüngeren und am stärksten bei jungen Männern.
Immer mehr gewaltsame Konflikte
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK spricht von aktuell weltweit mehr als 120 gewaltsamen Konflikten. Bei einem Grossteil handelt es sich um Bürgerkriege in armen Ländern, wo es einem Grossteil der Bevölkerung ohnehin schlecht geht. Manche dieser Konflikte haben eine niedrige Intensität, dauern aber schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Extrem opferreich sind hingegen jene im Sudan, in Äthiopien oder in Myanmar.
Es gibt aber auch etliche – und tendenziell mehr – grosse Konflikte von überregionaler, oft gar geopolitischer Bedeutung: allen voran jene in der Ukraine und in Gaza.
Insgesamt ist die Bilanz düster und die Tendenz stark negativ: Es finden derzeit mehr bewaffnete Konflikte als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt.
Die regelbasierte Weltordnung bröckelt
Die multilateralen Organisationen werden immer schwächer. Sie erfüllen die Erwartungen bei weitem nicht mehr. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs sagten alle: nie wieder!
Deshalb wurde die UNO gegründet und eine auf Regeln basierende Weltordnung geschaffen. Doch diese Weltordnung und ihre Normen, zu denen auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht mit den Genfer Konventionen gehört, bröckelt gewaltig und wird zunehmend missachtet.
Negatives Aufsehen erregt dabei etwa, dass der UNO-Sicherheitsrat inzwischen nicht nur beim Ukraine-Krieg, sondern auch im Nahen Osten oder wenn es um Nordkoreas Atomzündelei geht, gelähmt ist. Oder dass Israel, dessen Existenz auf UNO-Resolutionen beruht, den UNO-Generalsekretär zur «Persona non grata» erklärt hat.
Das sind nur zwei Beispiele: Auch die internationale Justiz wird missachtet. Der Respekt für Urteile des obersten UNO-Gerichtshofs sinkt. Beim internationalen Strafgerichtshof ICC werden Haftbefehle, etwa gegen Wladimir Putin oder Benjamin Netanjahu, von vielen Staaten ignoriert. Der Strafgerichtshof dürfte künftig von Donald Trump und seinen Republikanern gar aktiv bekämpft werden.
Offenkundig ist: Die alte Weltordnung zerbröselt. Eine neue ist nicht in Sicht.
Die Krise der humanitären Hilfe
Die humanitäre Not wächst. Die Bereitschaft, sie zu lindern, hinkt indes immer stärker hinterher. Die Spendenaufrufe der UNO waren gemäss Zwischenstand im Herbst dieses Jahr bloss zu einem Drittel finanziert. Und damit erheblich schlechter als in den Jahren davor.
Die grösste humanitäre Organisation, das IKRK, musste sein Budget um mehr als 400 Millionen reduzieren, den Mitarbeiterbestand um über 1800 Leute abbauen und Dutzende von Standorten schliessen und weitere stark verkleinern.
Gleichzeitig sinkt in immer mehr Ländern die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Es gibt also vielerorts eine Entsolidarisierung. Das macht sich auch beim Sparen bei der Entwicklungshilfe bemerkbar.
Die Wirtschaft wächst, doch ...
Die Wirtschaftszahlen waren auch 2024 grossmehrheitlich positiv. Vor allem haben sehr viele arme Länder und Schwellenländer deutlich aufgeholt. Aber die Zahlen sind das eine. Das andere ist die Wahrnehmung. Da zeigt sich, dass die – oft weit überhöhten – Erwartungen der Menschen und die Realität auseinanderklaffen. Genährt wohl auch durch soziale Medien erwarten viele Bürgerinnen und Bürger von ihren Regierungen viel zu viel, gerade auch in westlichen, demokratischen Ländern.
Es gibt keine Anhaltspunkte, um zu sagen, wir würden heute schlechter regiert als vor zwei, drei, vier Jahrzehnten. Dennoch sind die allermeisten Regierungen weitaus unbeliebter als damals und werden bei Wahlen geradezu abgewatscht. Wobei sich dann oft bald dieselbe Frustration mit den Nachfolgern an der Macht einstellt.
Man hat den Eindruck, dass aus Stimmbürgerinnen und -bürgern Stimmungsbürger werden, die aufgrund von überzogenen, aber enttäuschten Erwartungen oder aufgrund mehr oder minder begründeter Abstiegsängste entscheiden. Das ist eine schwierige Ausgangslage für die Zukunft der Demokratie.