Es ist ein lauter Abend im «16 Tonnen», einem kleinen Musik-Club in Moskau. Rapper Husky tritt auf. Der 27-Jährige heisst mit bürgerlichem Namen Dmitri Kusnezow. Ein schlaksiger Typ, struppiger Bart, sehr bleich.
Eine Gruppe verschwitzter junger Leute hält ein Transparent hoch: Es ist der inoffizielle Husky-Fanclub. Sie reisen ihrem Idol an Konzerte nach, kreuz und quer durch Russland. Warum tun sie das?
«Husky trifft den Herzschlag des echten Russlands. Die grauen Plattenbauten, das bringt er richtig gut rüber», sagt ein Fan. Ein anderer meint: «In Huskys Musik steckt diese «RussTristesse», diese russische Melancholie, die viele jetzt im Herzen haben.»
RussTristesse – ist das der Herzschlag des jungen Russlands? Es kommt drauf an, wen man fragt.
Brjansk, eine Provinzstadt vier Zugstunden von Moskau: In einem Schulhaus haben sich gegen 200 «Freiwillige des Sieges» versammelt. Die kremlnahe Jugendorganisation pflegt das Andenken an den Sieg der Sowjet-Armee gegen Hitler-Deutschland. Die Aktivisten setzen sich etwa für Weltkriegsveteranen ein oder pflegen Kriegsdenkmäler.
«Unglaubliche Karriere»
Der Moderator auf der Bühne kündigt einen hohen Gast an: Olga Ameltschenkowa. Die 29-Jährige ist die Chefin der «Freiwilligen». «Ich habe Olgas Biografie studiert», ruft der Moderator. «Sie hat eine unglaubliche Karriere gemacht und ich denke, viele von Euch könnten ihr nacheifern.»
Ameltschenkowa ist bekannt. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 agitierte sie für Putin; sie ist zudem aktiv in verschiedenen kremlnahen Organisationen. Russland sieht sie als ein Land der Chancen. «Der Staat unterstützt die Freiwilligenarbeit auf allerhöchster Ebene. Es gibt inzwischen grossartige Möglichkeiten dafür.»
Tatsächlich fördert der Kreml zahlreiche Jugendorganisationen, darunter die «Freiwilligen des Sieges». Wer mitmacht, der kann profitieren. Gerade für junge Leute aus der Provinz sind solche staatsnahen Organisationen eine Möglichkeit, im Land herumzukommen.
Manche finden durch ihr Engagement auch einen Job, so etwa die 25-jährige Anastasia Schejkina. «Weil ich sehr aktiv war, bekam ich die Möglichkeit, regionale Leiterin der ‹Freiwilligen des Sieges› zu werden. Inzwischen arbeite ich in einer staatlichen Organisation, dem ‹Wolgograder Patrioten-Zentrum›», sagt sie.
Ich war immer sehr stolz, dass ich in dieser erhabenen Stadt lebe.
Schejkinas Arbeitgeber hat sich die «patriotische Erziehung» der Jugend zur Aufgabe gemacht. Ein Anliegen, das der jungen Frau wichtig ist. Sie stamme aus Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, wo eine der fürchterlichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs getobt hat. «Ich war immer sehr stolz, dass ich in dieser erhabenen Stadt lebe.»
Weltkriegs-Gedenken gehört zur Identität
Kein Land hat so viele Menschen verloren im Zweiten Weltkrieg wie die Sowjetunion. Doch in die Trauer um die Opfer mischt sich zunehmend auch ein Gefühl des Triumphs. Präsident Putin hat das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg zu einer zentralen Säule der russischen Identität gemacht. Manchmal hat man den Eindruck: Je länger der Sieg entfernt ist, desto mehr wird er gefeiert.
Früher sei durchaus des Krieges gedacht worden, sagt Alexander Judin, auch er ein «Freiwilliger des Sieges». Aber etwas habe sich geändert. «Das Leben in den 1990er-Jahren war nicht besonders gut. Die Leute hatten Sorge, überhaupt genug zu essen zu haben. Dann kam Wladimir Wladimirowitsch Putin und alles wurde besser – und wir Russen hatten auch wieder Energie, uns um andere Dinge zu kümmern.»
Putin habe Russland «von den Knien aufgerichtet», sagen seine Anhänger. Russland sei unter ihm wieder ein starkes, weltweit geachtetes Land geworden. Das gilt auch für die Geschichtspolitik. Russland erinnert sich wieder mit stolz an seine militärischen Erfolge.
Es ist ein Geschichtsbild, das der starken Nation huldigt – und dem starken Anführer.
«Das Klima wird immer repressiver»
Längst nicht alle jungen Russinnen und Russen sprechen auf diese Ideen an. Das hat man im letzten Sommer gesehen, als in Moskau die liberale Opposition für faire Wahlen demonstrierte. Unter den Aktivisten: viele Junge.
Die 18-jährige Kamilla erklärte damals: «Putin und seine Leute haben die Macht vor 20 Jahren an sich gerissen – das ist so lange her: da war ich nicht einmal auf der Welt. Und seither wird das Klima immer repressiver. Dagegen müssen wir ankämpfen.»
Es ist schwierig geworden, Politik zu machen
Kamilla ging in jenem heissen Sommer an jede Demo. Doch ihr Traum eines demokratischeren Russlands wurde – bisher – nicht wahr. Der Kreml liess die Proteste im Sommer niederschlagen, zahlreiche Aktivisten landeten im Gefängnis.
Entsprechend gebremst ist auch der Enthusiasmus der Aktivisten. «Es ist schwierig geworden, Politik zu machen», schreibt Kamilla per WhatsApp aus der Corona-Quarantäne. Sie sitzt – wie die meisten Russinnen und Russen in diesen Tagen – zu Hause.
Ironie und Fatalismus
Die jungen Leute aus dem Husky-Fanclub machen sich wenig Gedanken über Politik. In die Zukunft schauen sie mit einer Mischung aus Fatalismus und Sorge: «Wenn man etwas erleben will, sollte man es heute tun und nicht auf morgen verschieben. Denn ein Morgen wird es vielleicht nicht geben», sagt einer.
Da ist ein Gefühl der ständigen Unsicherheit, das sich mischt mit dieser russischen Tristesse, die Husky so eindringlich besingt.
Wer ist dafür verantwortlich? Vielleicht doch Putin, der seit 20 Jahren regiert? Einer der Husky-Fans antwortet für die ganze Gruppe: «Dazu möchten wir nichts sagen. Ausser so viel: Putin ist ein ganz grossartiger Politiker». Alle lachen laut – und vielsagend.
Eine unpolitische Haltung sei sehr typisch für diese Generation, sagt die Moskauer Soziologin Anna Sorokina. «Wenn man Vertreter der Generation Putin fragt, wie sie die Zukunft Russlands sehen, sagen die meisten: Nun, das hängt davon ab, wer an der Macht sein wird.»
Das heisst, die Elite soll entscheiden – und kaum einer dieser Jungen kommt auf die Idee, dass er sich selbst engagieren könnte.»
Eine hedonistische Jugend?
6000 Studierende im ganzen Land hat Sorokina für eine Studie befragen lassen. Und die Forscherin kommt zu einem eindeutigen Schluss.
«Die Generation Putin – das sind in der Mehrheit Hedonisten. Im Zentrum ihres Interesses stehen ihre eigenen Bedürfnisse. Diesen jungen Leuten ist es egal, ob Putin oder sonst jemand an der Macht ist. Sie sind bereit, unter jedem politischen Regime zu leben – solange dieses Regime ihren persönlichen Komfort nicht einschränkt.»
Und zu einem komfortablen Leben gehört für Russlands Jugend: ein guter Job, ein guter Lohn, die Möglichkeit zu reisen und zu konsumieren. Neben der passiven Mehrheit, sagt Sorokina, gebe es politisch aktive Minderheiten, aber diese seien sehr klein.
Russlands Jugend, die Generation Putin, ist also dreigeteilt. Eine kleine Gruppe unterstützt den Kurs des Kremls, eine andere kleine Gruppe bekämpft den Kreml. Während die grosse Mehrheit mit all dem nichts zu tun haben will, sich einem Hobby hingibt, der Musik zum Beispiel, und sonst einfach dafür schaut, irgendwie über die Runden zu kommen.