Rund hundert Leute stehen im strömenden Regen und bekunden lautstark und fröhlich ihre Solidarität mit der Amazon-Belegschaft in Bessemer, Alabama. «Say Union say hell yes» – «Sag Gewerkschaft, sag Ja», lautet der Schlachtruf. Sie fordern, dass Amazon seine Angestellten besser behandelt.
Lange Schichten, kurze Pausen
Von Ausnützung spricht die Amazon-Arbeiterin Jennifer Bates. Während einer 10-Stunden-Schicht würden bloss zwei Pausen zu 30 Minuten gewährt. Viele ihrer Kollegen klagten über körperliche Schmerzen, sagt die 48-jährige Afroamerikanerin. Die grosse Mehrheit der Belegschaft in Bessemer ist schwarz.
Bates verdient 15.30 Dollar in der Stunde. «Das ist nicht schlecht, aber auch nicht genug.» Es sei nicht ganz einfach, die Arbeiterschaft zu mobilisieren, gibt Bates zu. Viele ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen hätten vorher weniger verdient und seien mit dem Lohn zufrieden.
Anti-gewerkschaftliche «Schulungen»
Zudem übe Amazon anti-gewerkschaftlichen Druck aus, berichtet Bates. Das Management überflute die Belegschaft mit Propagandamaterial und zwinge sie zu «Schulungen» während der Arbeitszeit: «Sie erzählen uns Lügen über einen angeblichen Beitragszwang. Kritische Fragen waren nicht erlaubt.» Alabama ist ein sogenannter «Right to work»-Staat; niemand darf gezwungen werden, einer Gewerkschaft beizutreten.
Amazon widerspricht
Die Mehrheit der Angestellten vertrete nicht die Sichtweise der Gewerkschaft RWDSU, schreibt Amazon in einer Stellungnahme gegenüber Radio SRF. Amazon habe in Bessemer über 5000 gut bezahlte Arbeitsstellen mit vergleichsweise guten Sozialleistungen und Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen.
Amazon eröffnete das Verteilzentrum 2020, nachdem die lokalen Behörden ein Anreizpaket von über 50 Millionen Dollar gesprochen hatten. Von einem Traum-Deal spricht der Bürgermeister von Bessemer. Vor zehn Jahren sei die Stadt am Rand des Konkurses gestanden, doch nun sei die Krise überwunden, dank der Präsenz von Firmen wie Amazon oder Mercedes.
Gewerkschaft: Bessemer kein Einzelfall
Der Präsident der Einzelhandelsgewerkschaft RWDSU, Stuart Applebaum, spricht dagegen von Milliardengewinnen auf Kosten der Arbeiterschaft. Er weist auf die monströsen Gewinne von Amazon-Chef Bezos in der Pandemie hin: «Bezos könnte allen Mitarbeitenden 100'000 Dollar-Bonus auszahlen und wäre immer noch reicher als vor der Pandemie.»
Die Klagen der Arbeiter kommen laut RWDSU-Präsident Applebaum aus vielen Amazon-Standorten in den USA. Doch in Bessemer sei es erstmals gelungen, eine Abstimmung über einen Gewerkschaftsbeitritt durchzuführen.
Signalwirkung erwartet
Falls sich die Belegschaft von Amazon in Bessemer gewerkschaftlich organisieren würde, wäre das eine Sensation. Es gehe um viel mehr als um sie, so Applebaum. Amazon verändere die Industrie und präge so zunehmend den gesamten Arbeitsmarkt. Der Einzelhandelsriese werde zum Modell, wie Arbeitnehmende in den USA künftig behandelt würden.
Auch für Amazon geht es um mehr. Das Unternehmen fährt derzeit eine Kampagne in den Politik-Zeitschriften in Washington und streicht seine Arbeitnehmerfreundlichkeit hervor. Der Machtwechsel in Washington verheisst für Amazon nichts Gutes. Präsident Joe Biden gilt als gewerkschaftsfreundlich, und die Demokraten entwerfen Gesetze zur Stärkung der Gewerkschaften nach Jahrzehnten des Zerfalls.