Der Klimawandel ist in Chile längst zur Überlebensfrage geworden: Rund ein Viertel von Chile ist heute bereits Wüstengebiet. Weitere 50 Prozent des Landes leiden unter einer seit über einem Jahrzehnt andauernden regionalen Dürre.
«Chile ist wegen seiner extremen geografischen Länge ein Land mit einer grossen bioklimatischen Vielfalt. Zentralchile, Santiago, entspricht klimatisch in etwa dem spanischen Sevilla – die Atacama-Wüste im Norden von Chile ist vergleichbar mit Namibia, das ist extrem», sagt die Ökologie-Historikerin Eugenia Gayó von der Universidad de Chile.
Von der Hauptstadt in den Süden – wegen der Klimakrise
Die Hauptstadtregion von Santiago, wo über sieben Millionen Menschen leben, trocknet immer weiter aus. Hitzewellen nehmen zu. Ursache seien verschiedene Faktoren, erklärt Gayó: Klimawandel, Wassermangel, ungebremstes Wachstum einer Millionenstadt. «Unser ganzer Planet hat einen kritischen Punkt erreicht. Die Frühwarnphase ist vorbei», so die Forscherin.
Vor sieben Jahren zog Josefina Besoain mit ihrem Partner von der chilenischen Millionenmetropole Santiago 850 Kilometer in den Süden, in die Fischereistadt Valdivia. Sie floh vor dem Klimawandel: «In Santiago litt ich an Depressionen. Das Klima machte mir zu schaffen. Ich hatte Mühe mit dem Atmen und vertrug auch die zunehmende Hitze nicht gut».
Der Umzug nach Valdivia habe ihre Lebensqualität verbessert, sagt die 38-jährige. Inzwischen brauche sie keine Antidepressiva mehr. Das feuchte Klima ist für die Architektin zur Inspirationsquelle geworden. In ihrem Labor entwickelt die junge Frau organische Baustoffe. Überall zu sehen: Petrischalen, mit Pilzsporen drin – es sind Pilzzellen, genannt Myzel.
«Wenn die Sporen gross genug sind, übersiedeln wir die Pilze in Formen und füttern sie mit Weizen oder Reis. Stärkehaltige Samen; das verdaut der Pilz», sagt die junge Frau. Dann werden Strohreste oder Holzspäne untergemischt. Darauf siedelt sich der Pilz an, bis er nach und nach die ganze Form ausfüllt. «Dann nehmen wir den Pilz aus der Form und bestrahlen ihn mit Hitze – so stirbt der Pilz ab», erklärt die Architektin.
Das Resultat des chemischen Prozesses: umweltfreundliche Bausteine, Isolationsmaterial, aus Pilzen.
Pilz-Hype in Chile
Josefina ist nicht die einzige, die in Chile als Folge des Klimawandels auf den Pilz gekommen ist. Einmal im Jahr findet in Valdivia das Fungi-Fest statt, das grösste Pilzfest in Chile. In der Messhalle: Stände mit Trüffelöl, T-Shirts mit psychedelischen Pilzmotiven darauf, Besucherinnen und Besucher in Pilzverkleidung. «Mein Lieblingspilz ist die Mycena Cyanocephala. Das ist ein Pilz, der sich von Bäumen ernährt, er ist klein, hat einen dünnen Stiel und ist knallblau, himmelblau», erzählt ein Besucher.
«Ich mag die Amanita Galactica am liebsten», sagt seine Begleiterin, «das ist ein Pilz aus dem Süden Chiles. Der ist wunderschön. Schaut aus wie ein Fliegenpilz, aber in Schwarz, mit weissen Punkten drauf. Er schaut aus wie ein Sternenhimmel – deshalb der poetische Name: Galactica».
Dass sich Chiles Pilzbegeisterte gerade in Valdivia treffen, ist kein Zufall: Die Fischereistadt mit rund 150'000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt nahe der Magellanes-Region – dort, wo der chilenische Teil von Patagonien beginnt. Es ist einer der regenreichsten Orte des Landes – und deshalb auch reich an Pilzen.
Pilze, die auf Pflanzenwurzeln wachsen, sind eine wichtige Alternative zu Dünger in der Landwirtschaft.
Auf dem Parkplatz vor dem Pilzfest steht César Marín. Der Afrokolumbianer ist Pilzforscher an einer chilenischen Universität. «Hier im Süden Chiles gibt es eine spezielle Baumart, es sind Buchen, genannt Nothofagus. Nothofagus-Wälder gehören zu den Wäldern mit der grössten Biodiversität weltweit – deshalb gibt es hier auch eine starke Pilzforschungstradition». In Chile gebe es im Unterschied zu anderen Weltregionen auch noch viele neue Pilzarten zu entdecken.
Dass südamerikanische Forscher in Chile Pilze erforschen, ist eine neue Entwicklung: Lange war die Pilzforschung in europäischer und nordamerikanischer Hand. «Bis in die 80er Jahre waren es vor allem europäische Wissenschaftler, die in Chile Pilze erforschten. Seit den 80er Jahren steigt die Zahl chilenischer Forscherinnen und Forscher», sagt Marín.
Der sogenannte Globale Süden holt auf – auch wenn noch immer die meisten Forschungsgelder an Forschende auf der Nordhalbkugel gehen. Veranstaltungen wie das Fungi-Fest helfen dabei, den Nutzen der Pilzforschung aufzuzeigen, ist Marín überzeugt. Er setzt grosse Hoffnungen in Pilze: «Pilze, die auf Pflanzenwurzeln wachsen, sind eine wichtige Alternative zu Dünger in der Landwirtschaft. Sie helfen den Pflanzen, noch mehr CO₂ aus der Luft zu filtern».
Grosses Potenzial von Pilzen mit Vorsicht zu geniessen
Laut einer Studie der Universidad de Chile filtern die Wälder Patagoniens pro Hektar schon heute fast doppelt so viel CO₂ aus der Luft wie der Amazonas – vermutlich wegen verschiedenen Pilzarten. Die Pilzforschung könnte deshalb dabei helfen, nützliche Pilzarten besser zu identifizieren und einzusetzen, um die Erderwärmung zu bremsen, glaubt César Marín.
Ein anderer Biologe, Cristián Riquelme, schätzt zwar das grosse Interesse an seinem Fach. Aber warnt auch vor zu vielen Erwartungen: «Da muss man vorsichtig sein. Pilze sind jetzt gerade eine Modeerscheinung und ein Hype. Wir sollten sie nicht überschätzen». Noch gebe es in der Pilzforschung viele ungeklärte Fragen – auch das macht Pilze wohl so faszinierend.